Literatenstreit vor Gericht. Alfred Kerr und Karl Kraus.VorwärtsDie Fackel


Geehrter Herr Justizrat!


Im Auftrage des Herrn Kraus beantworten wir
Ihr Schreiben vom 5. März an Dr. Samek, dessen Abschrift Sie Herrn
Kraus ohne ein Wort direkter Anrede eingesendet haben. Die Erledi
gung Ihres Kostenanspruches nebst einigen aufklärenden Worten wäre
ohnedies am heutigen Tage durch Herrn Dr. Samek erfolgt, da Herr
Kraus Montag abends aus München zurückgekehrt ist.


Zu Ihrem Schreiben vom 5. März ist zu sagen,
dass Sie keineswegs aus dem gerichtlichen Beschluss erst ersehen
haben, dass der unter Vorbehalt geschlossene Vergleich nicht wider
rufen wurde, sondern dass Sie dies schon aus dem Ersuchen des Herrn
Dr. Samek vom 20. Februar, den gegnerischen Vertreter nochmals auf
den bloss juristischen Abschluss des Prozesses aufmerksam zu machen,
ersehen mussten. Diese Tatsache machte auch eine Beantwortung Ihrer
Schreiben vom 21. und 23. Februar überflüssig, bis auf den Kostenpunkt
der wegen Abwesenheit des Herrn Kraus (so bedauerlich Ihnen diese
auch erscheinen mag), erst jetzt erledigt werden konnte.


Es ist unrichtig, dass Herr Kraus die lange
Frist ungenützt verrinnen liess was von Ihnen „nicht zu vertreten“
sei. Wichtig ist, dass innerhalb der Frist die einzig mögliche
Konsequenz aus der Zwangslage gezogen wurde, in die Herr Kraus als
Kläger respektive Angeklagter sich versetzt gefühlt hat, und aus
der (Erkenntnis, dass die Sache von Ihnen nicht zu vertreten sei). Wahrnehmung des Eindrucks, daß Sie die Sache als ganze nicht zu vertreten wünschen. In
denkbar schonendster Form hat Herr Dr. Samek diese Empfindung im
Schreiben vom 17. Februar zum Ausdruck gebracht, gestützt nicht so
sehr auf die Tatsache des provisorischen Vergleiches, als auf die
Art, wie er herbeigeführt wurde, worüber ein durchaus zuverlässiger
Bericht eines Ohrenzeugen der letzten Verhandlung vorliegt. Dieser
Bericht bestätigt durchaus die Darstellung des Gerichtssaalberichtes
im „Vorwärts“ auf den sich Herr Kraus und Dr. Samek sonst als Zei
tungsstimme keinesfalls berufen hätten, der jedoch auch durch Ihr
eigenes Wort im Schreiben vom 2. Februar, wonach Sie die vergleichs
weise Erledigung für die „gescheiteste“ erklärt haben, verifiziert beglaubigt
wurde. Herr Kraus ist in Kenntnis der Tatsache, dass Sie dem Ver
such des gegnerischen Anwaltes, die Angelegenheit zu einem Literaten
gezänk zu degradieren, mit dem sich ernste Gerichtsmänner gar nicht
zu befassen haben, zumindest nicht entgegengetreten sind. Diese
Wahrnehmung steht im diametralen Gegensatz zu den Erwartungen, die
er an Ihre Eingeweihtheit in Angelegenheiten der „Fackel“ knüpfen
konnte. Dieses passive und bagatellisierende Verhalten wäre für die
Weiterführung des Prozesses keineswegs gewiß nicht von Nutzen gewesen.


In der Sache selbst erblickt Herr Kraus
eine schwere Enttäuschung in dem Umstande, dass Sie, wiewohl Dr.Samek in den Briefen vom 3. Jänner und 28. Februar 1927 auf die Mög
lichkeit einer Widerklage ausdrücklich aufmerksam gemacht und ge
schrieben hat, dass die Klage nur einzubringen sei, „wenn es sicher
ist, dass die Berliner Gerichte zu einer Widerklage gegen Herrn
Kraus nicht zuständig sind“, die Klage eingebracht haben. Nach Ein
bringung der Klage ist ihm die Widerklage dann doch erwachsen und
Sie haben sie in einem Masse ernst genommen, dass Sie auf der Basis
der Gleichwertigkeit auf gegenseitige Zurückziehung eingingen.
Um diesen Gewinn herbeizuführen, hat es bestimmt nicht der Einbrin
gung der Klage bedurft. Herr Kraus glaubt nicht, dass ihm, da Sie
sich juristisch getäuscht haben, eine moralische Verpflichtung er
wächst, Ihnen mehr als Ihre Barauslagen zu ersetzen, in einer Sache,
die er Ihnen anvertraut hat, weil er aus Ihrer Beziehung zu seiner
Arbeit auf eine persönliche Teilnahme in einem kulturpolitischen
Kampfe schliessen durfte. Er überweist Ihnen den gewünschten Betrag
von 200 Mark, macht aber kein Hehl daraus, dass er es für einen
würdigen und entsprechenden Abschluss der Angelegenheit erachten
würde, wenn Sie sich entschlössen, die Summe, die nach Abzug der Bar
auslagen übrigbleibt, entweder dem der Prozessmaterie gemässen Wohl
fahrtswerk, der Unterstützung Kriegsblinder, oder einem Ihrer Par
teizwecke zuzuwenden oder etwa auch zu Gunsten der Hinterbliebenen
des 90. Wiener Polizeiopfers, für die Herr Kraus gegenwärtig eine
Sammlung veranstaltet, zu widmen.


Hochachtungsvoll