Berliner Tageblatt


Sehr geehrter Herr Kollege!


In Sachen Kraus gegen Kerr gestatte ich mir auf
Ihre Anfrage vom 16. April 1928 zu erwidern:


Nach Ihrer Mitteilung muß Herr Kraus Herrn Kerr
in einem öffentlichen Vortrag als Schuft bezeichnet
haben und dieser hat einige Tage später im BerlinerTagblatt ein Gedicht mit gröblichen Injurieen gegen HerrnKraus veröffentlicht. Nach § 199 StGB. kann der Richter,
und zwar nach freiem Ermessen, beide Beleidiger oder
einen derselben für straffrei erklären, wenn eine Belei
digung auf der Stelle erwidert wird. Die ratio legis
ist: wer beleidigt wird und auf der Stelle erwidert
handelt regelmässig im Affekt. Wem eine Beleidigung auf der
Stelle erwidert wird, erhält dadurch schon gewissermassen
eine Strafe. Der Richter soll daher berechtigt sein,
nach freiem Ermessen einen oder beide für straffrei
zu erklären. Eine Erwiderung auf der Stelle liegt dann vor
wenn der Beleidigte von der Beleidigung Kenntnis erhalten
hat und diese erwidert hat, solange er noch durch die
Beleidigung erregt war. Ob dies zutrifft, ist die wesent
liche Tatfrage. Die Bestimmung findet auch auf Press
beleidigungen Anwendung (RG. in Strafsachen Bd. 2 S. 181).
In dieser Entscheidung setzt das Reichsgericht zur
Anwendung des § 199 eine gleiche oder annähernd gleiche
Schwere beider Handlungen hinsichtlich der Schuld voraus.
Das wäre allerdings bei der exzessiven Formulierung
Kerrs wohl kaum zu bejahen. Eine Erwiderung „auf der
Stelle“ liegt somit vor, wenn anzunehmen ist, daß die
Erwiderung noch unter Nachwirkung der Erregung über die
widerfahrene Beleidigung abgegeben wird. Ein Zwischenraum
von einigen Tagen würde dies nicht völlig ausschliessen,
aber unwahrscheinlich machen; denn Kerr könnte angeben,
daß er das Gedicht alsbald verfasst, sein Abdruck sich
aber einige Tage hingezogen habe.


Die Straffreierklärung nach § 199 ist nicht
auf formelle Beleidigungen beschränkt. Im vorliegenden
Fall würden aber nach Ihrer Mitteilung beiderseits nur
Formalbeleidigungen vorliegen. Ich halte es für unwahrschein
lich, daß das Gericht beide Parteien, insbesondere HerrnKerr, für straffrei erklären würde. Zunächst müßte Kerr
beweisen, daß er bei dem Vortrag des Herrn Kraus anwesend
war oder von der ihm widerfahrenen Beleidigung alsbald
Kenntnis erlangt hat. Hat er das Gedicht, was ja allerdings
nicht anzunehmen ist, geschrieben bevor er von der
Beleidigung Kenntnis erhielt, so ist selbstverständlich
die Anwendung des § 199 von vornherein ausgeschlossen.
Nun ist Herr Kerr in seiner Abwehr über das Ziel doch
ganz gewaltig hinausgegangen. Das Gericht würde ihm
daher kaum Straffreiheit bewilligen. Andererseits kann
natürlich seitens des Herrn Kerr Widerklage erhoben
werden, da der vom § 388 StPO. erfordernde Zusammenhang
der beiden Beleidigungen gegeben ist, wenn Herr Kerr
sein Gedicht in Kenntnis der ihm widerfahrenen Beleidigung
verfasst hat.


Bezüglich der etwaigen Klage gegen den verant
wortlichen Redakteur gilt § 20 Preßgesetz vom 7.V.1874.
Danach ist der verantwortliche Redakteur als Täter zu
bestrafen, wenn nicht durch besondere Umstände die Annahme
seiner Täterschaft ausgeschlossen wird. Nach der herr
schenden Praxis wird eine Aneignung des strafbaren Inhalts
durch den Redakteur dann angenommen, wenn der Verfasser
in der Veröffentlichung nicht genannt wird. Der Redakteur
kann sich in diesem Fall auch nicht durch die nachträgliche
Nennung des Verfassers straffrei machen. Andererseits ist
aber dadurch, daß der Verfasser eines Beitrags sich selbst
in der Zeitung nennt, regelmässig die Annahme, daß der
verantwortliche Redakteur die Äusserung als die eigene
widergibt, widerlegt. Es gilt hier das Gleiche wie bei den
Einsendungen bei denen die Redaktion bemerkt, daß sie
die Verantwortung ablehne oder sich den Inhalt nicht zu
eigen mache. In diesem Fall muß gegen den Einsender
vorgegangen werden. Der Redakteur könnte höchstens als
Gehilfe strafbar sein. Von einer Klage gegen den Redakteur
unter Weglassung des Beklagten Kerr wäre daher auf jeden
Fall abzuraten. Auf § 199 könnte sich dieser nicht berufen.


Mit vorzüglicher koll. Hochachtung
Hirschberg
Rechtsanwalt.


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