Sehr geehrter Herr
Justizrat.
Sie hatten die
Liebenswürdigkeit, Herrn RenéFülöp-Miller aus Wien, welcher vor einigen Tagen in der
Angelegenheit des Herrn Karl Kraus gegen
einen Herrn AntonLindner bei Ihnen
vorsprach, zu empfangen und durch ihn
Herrn Karl Kraus
mitzuteilen, dass Sie bereit wären, seine
Vertretung in dieser
Angelegenheit zu übernehmen. Herr
Karl Kraus
dankt Ihnen vielmals hiefür und hat mich beauf
tragt, Ihnen das Material zu
unterbreiten und Ihnen für die
Übernahme der Vertretung zu danken und seine herzlichsten
Grüsse zu bestellen.
Da ich nicht weiss, ob Herr Fülöp-Miller seine
Information genügend präzise
erteilt hat, erlaube ich mir
Ihnen in Kürze, den Sachverhalt darzustellen und Ihnen Ab
schriften der Briefe einzusenden,
in denen sich Herr AntonLindner zur Herausgeber
der Briefe des Herrn Karl Kraus ver
pflichtete. Es handelt sich hiebei um ca. 400 Briefe, die
Herr Karl Kraus Herrn
Anton Lindner
während der Gymnasial
und Studentenjahre geschrieben hat.
Im Jahre 1899 trafen beide ein
Übereinkommen, einander die
Briefe zurückzustellen. Herr Karl Kraus kam dieser Ver
pflichtung nach, nicht aber Herr
Anton Lindner.
Herr
Karl Kraus hat dann
die Sache aus der Evidenz verloren,
wurde aber vor kurzem durch eine
befreundete Dame
darauf
aufmerksam gemacht,
dass Herr Dr. Alexander Bessmartny,
der in Berlin eine Autographenzeitschrift herausgibt,
erzählt hat, dass ihm ca. 400
Briefe des Herrn Karl
Kraus
zum Ankauf angeboten wurden. Es
kann sich hiebei nur um
die
Briefe an Herrn Anton
Lindner handeln und dadurch er
innerte sich Herr Karl Kraus an die
seinerzeit eingegangene
Verpflichtung desselben, die Briefe zurückzustellen. Da
diese Verpflichtung in Wien übernommen wurde, dürfte nach
meinem Dafürhalten
österreichisches Recht zur Anwendung
zu bringen sein, nach welchem die
Klage auf Rückstellung
der Briefe
noch nicht verjährt ist. Ob sie nach deutschem
Recht bereits verjährt ist, kann
ich nicht beurteilen, doch
glaube
ich, dass auch nach deutschem Recht die Klage noch
möglich ist. Nach
österreichischem Recht wäre auch eine
einstweilige Verfügung möglich,
die Briefe könnten in vor
läufige Verwahrung genommen
werden, da die Gefahr besteht,
dass Herr
Lindner die Briefe während der Prozessführung
verkauft und hiedurch die
hiedurch die Exekutionsführung
vereitelt würde. Bei oberflächlicher Beurteilung dünkt
mich, dass diese Möglichkeit auch
nach § 935 Z.P.O. in
Deutschland besteht.
Ich ersuche Sie daher, mir
Ihre Ansicht über
den Fall
mitzuteilen und, wenn Sie für die Einleitung
des Prozesses sind, zur
Unterfertigung durch Herr KarlKraus ein Vollmachtsexemplar zu übersenden, ich werde
Ihnen dann dieses und die
Originalbriefe des Herrn AntonLindner, die Sie ja zur Prozessführung unbedingt be
nötigen, schicken.
In der Erwartung Ihres
gesch. Antwortschreibens
zeichne ich mit dem Ausdrucke der ergebensten kollegialen
Hochachtung
3 Beilagen in Abschrift,
rekommandiert.