Sehr geehrter Herr!
Wiewohl die ständige Notiz auf
dem Umschlag der Fackel
ein Eingehen auf Zusendungen
grundsätzlich verwehrt, möchten wir
die Ihre, die doch ein wenig aus
der Art schlägt, beantworten. Zu
nächst zu dem Zweck einer
Richtigstellung Ihres Vorbringens, der
Tadel Ihrer Übersetzung von „Maß für Maß“ sei eine „Beschimpfung“
ge
wesen, deren
Berechtigung Sie freilich sogar, obschon nur zum Teil
anerkennen. Wir müssen Ihnen aber
vor allem die Aufklärung zukom
men lassen, daß nicht nur die
Annahme, irgendeine Zusendung würde
Herrn Karl Kraus Freude
machen, auf einem Irrtum beruht, der eben
durch jene Umschlagnotiz deutlich
berichtigt wird; sondern daß ins
besondere die Vermutung, die von
Shakespeare-Übersetzungen würde
ihm als „einem solchen Shakespeare-Verehrer“
zusagen, abwegig ist,
indem doch
von vornherein eher die Annahme zulässig wäre, daß ge
rade dieser seiner Eigenschaft
die Vorenthaltung von Shakespeare
Übersetzungen weit mehr
entspräche. Auch ist es natürlich ein Irr
tum, zu glauben, daß es ihm, wenn
überhaupt, nach einem öffentlich
ausgesprochenen Tadel möglich wäre, die weitere Beurteilung privat
fortzusetzen, auf diesem Wege die
Revision oder Zurückziehung des
Urteils vorzunehmen oder dergleichen. Solches wäre selbst dann nur
öffentlich, aus eigenem Antrieb,
fern der Anregung des Beteiligten
möglich, wenn dieser mit Recht die Hoffnung hegen könnte, den Tad
ler „aus einem Saulus in einen Paulus
zu verwandeln“, eine Erwar
tung, deren Ausspruch wohl nicht
einmal dem Herrn selbst, welchem
die Bekehrung gilt, geziemte. Gewiß dürften Sie eine Frage wie
„Saul, Saul, was verfolgest du
mich?“ mitempfinden; die Zuversicht
jedoch, daß nach Lektüre Ihrer
Shakespeare-Sonette den Tadler
Ihrer „Maß für Maß“-Übersetzung plötzlich ein Licht vom
Himmel um
leuchten
werde, daß seine Gefährten erstarret wären; daß nunmehr
der Weg nach Damaskus zu betreten sei, daß Herr Kraus drei Tage
nicht sehend sein, nicht essen
und trinken und daß es ihm dann wie
Schuppen von den Augen fallen
werde und er wieder sehend wäre und
mit dem heiligen Geist erfüllet,
ist vielleicht doch etwas über-
trieben. Immerhin ist er bereit,
einer Beurteilung Ihrer Über
setzungen näher zu treten, und
zwar so, daß sie ihn im Vergleich
mit den anderen Übersetzungen, von denen Sie gleichfalls Proben
einsenden und über deren
Unzulänglichkeit er mit Ihnen einer Mei
nung ist, zu einer Studie,
vielleicht auch zu eigenem Versuche
anregen könnten, wobei er
freilich, mit aller Anerkennung Ihrer
Bemühungen, von dem Standpunkt
ausginge, daß die Übersetzung
eines Dichtwerks, der „treue Dienst“, dessen
Schätzung Sie erhof
fen, niemals in einer Übernahme des Wortbestands, in einer eben
noch auf die Versfüße und in
Reime gebrachten Wörtlichkeit be
stehen könnte. Da nun zwar die
Beurteilung, wie alles im Umkreis
dieser Angelegenheit, öffentlicher Natur ist, jedoch die Arbeit
selbst, auf die sie sich bezöge,
als Manuskript Ihrer autorrecht
lichen Verfügung untersteht, so
fragen wir an, ob Sie mit dem Ab
druck einiger Sonette – es handelt sich vor allem um 81, 116,
129 –, in dem Zusammenhang einer
sprachkritischen Untersuchung
und
mit anderen Proben vergleichenden Betrachtung, einverstanden
wären.
Mit vorzüglicher
Hochachtung
VERLAG „DIE FACKEL“