Sonnet 81Sonnet 129Shakespeare’s SonnetsKönig LearSonnet 116MacbethDie Fackel


Sehr geehrter Herr Kraus!


Es ist mir – vor langer Zeit, gleichfalls in Shakespeare
Dingen – schon einmal widerfahren, dass ich auf ein an Sie gerichte
tes Schreiben vom Verlag „Die Fackel“ die Antwort erhielt. Das glei
che ist jetzt geschehen. Ich nehme das nicht als Unfreundlichkeit,
zu der ich auch keinen Anlass gegeben habe. Sie werden für Ihr Ver
halten sicherlich Gründe haben und ich bin auch weder erstaunt noch
gekränkt; ich bitte nur, mir zu gestatten, dass ich, gewohnt, jedem
in die Augen zu schauen, dabei bleibe, Ihnen direkt zu schreiben.


Sie haben meine Absicht missverstanden. Es war mir, so
sonderbar dies vielleicht auch klingen mag, wirklich nur darum zu tun,
Ihnen eine Freude zu machen. Es ist wahr, Sie haben damals über mich
Dinge geschrieben, die man kaum anders als Beschimpfungen be
zeichnen kann, haben die Gstanzeln über mich sogar bis in die letz
te Zeit öffentlich vorgetragen; aber:


„Weil ihr mir Unrecht tut, sollt’ ich genau so handeln?
Misshandeln könnt ihr mich, doch niemals mich verwandeln.“


Ich war damals, wie es sich gehört, – und bin es auch jetzt noch
zum Teil – beleidigt; aber dieses rein persönliche Gefühl konnte
und kann meinen Respekt vor Ihrem Geist und Ihrer Sprachmeister
schaft nicht mindern. Warum sollte ich also einem, mit dem ich mich,
über alles Persönliche hinweg, in einer Sache, in der Shakespeare
Verehrung, verbunden fühle und dem ich so viel Freude verdanke, nicht
auch eine Freude machen? Es ist ja nur zu einem geringen Teil Eige
nes, was ich darbot; es ist ja Shakespeare, den ich Ihnen schickte!


Gänzlich fern lag es mir, Sie zu einer Revision Ihres
Tadels meiner „Mass für Mass“-Übersetzung oder gar zu seiner öffent
lichen Widerrufung veranlassen zu wollen. Ich selbst verurteile heu
te meinen „Mass für Mass“-Text – aus andern Gründen allerdings als
den Ihrigen – und würde ihn keiner Bühne mehr überlassen oder gar
zum Druck liefern. Auch wäre es unsinnig, von Ihnen verlangen zu wol-
len, Sie sollten meine damalige Übersetzung eines Dramas nachträglich
bloss deshalb für gut halten, weil ich seither ein paar Sonette vielleicht
besser übersetzt habe, als dies andern gelungen ist. Nicht Ihr Urteil
über die eine Verdeutschung von damals sollten Sie umstürzen, sondern –
vielleicht! – Ihr Urteil über meine Übersetzerfähigkeiten überhaupt. Das
Urteil über das Jugendwerk eines Malers, von ihm selbst mitunterschrieben,
soll aufrecht bleiben; aber der Maler hat seither Anderes, vielleicht Bes
seres gemalt! Es wäre Unrecht, jenes eine Urteil unrevidiert auf das ge
samte spätere Werk des Malers auszudehnen.


Sie drei Tage blind sein und obendrein dürsten und hungern
zu lassen, das habe ich Ihnen wirklich nicht zugedacht; nicht einmal für
die Beleidigungen hätte ich Ihnen diesen Dunkelarrest zudiktiert. Nein,
so bin ich wahrhaftig nicht! Mir aber ist es – nicht gerade wörtlich –
so widerfahren; ich bin tatsächlich als Shakespeare-Übersetzer den Weg
nach Damaskus gegangen: Von meinen nun bald 13 Übersetzungen bewerte ich
selbst nur die letzten drei als gut und Shakespeare würdig; die früheren,
einschliesslich „Mass für Mass“, betrachte ich heute nur noch als Vorar
beiten, die ich in ihrer jetzigen Gestalt niemals veröffentlichen oder
aufführen lassen würde. Die Gründe darzulegen, würde zu weit führen und
ich möchte auch Ihre Zeit und Geduld nicht allzu sehr in Anspruch nehmen;
aber diese Selbsteinschätzung meiner früheren Arbeiten zeigt wohl, dass
mein Weg zu Shakespeare – spät, aber doch nicht zu spät – eine völlige
Umkehr erfahren hat, dass ich heute ein anderer bin als ich damals war.
Und sie zeigt vor allem auch, dass es mir unmöglich darum zu tun sein
konnte, Sie zu einer Änderung Ihrer von mir selbst geteilten „Mass fürMass“-Beurteilung bewegen zu wollen.


Ich konnte mir auch nicht einfallen lassen, zu glauben, Sie
könnten meine Sonett-Übersetzungen veröffentlichen; weiss ich doch, dass
Sie schon seit vielen Jahren fremde Arbeiten in die „Fackel“ nicht mehr
aufnehmen. Und dass Sie die verschiedenen Verdeutschungen der Sonette zum
Gegenstand einer „sprachkritischen Untersuchung“ machen wollen, hätte
ich, in Erinnerung an das Macbeth- und Lear-Heft, vielleicht ahnen können,
aber – was hilft’s? – ich ahnte es nicht. Es bleibt also, sehr geehrter
Herr Kraus, keine andere Erklärung für mein sicherlich absonderliches
Vorgehen, als dass ich mit meiner Zusendung Ihnen eine Freude machen woll
te. Nehmen Sie mir’s nicht übel, es war nicht bös gemeint!


Obwohl also meine Absicht durchaus privat und keinesfalls
auf eine Veröffentlichung gerichtet war, so bin ich trotzdem, da ja mein
Shakespeare-Wirken, ob früher oder später, doch in die Öffentlichkeit
münden muss, ohne weiters damit einverstanden, dass Sie von meinen Über
tragungen den angedeuteten Gebrauch machen. Diese Zustimmung zum Abdruck
bezieht sich, Ihrem Wunsch gemäss, auf die Sonette 81, 116, 129. (Nicht
aber auf meine Briefe, die, wie ich wohl kaum betonen muss, jedenfalls pri
vat gemeint und nur für Sie persönlich bestimmt sind.) Ich will sogar mehr
tun: Ich weiss zwar, dass ich Ihnen damit Werkzeug zu meiner eigenen Hin
richtung liefere; ich weiss aber auch, wie packend und aufwühlend Ihre
sprachkritische Vergleichung oder gar Ihre eigene Nachdichtung wäre – und
diese Dinge sind zweifellos wichtiger als meine Reputation. Ich mache mich
daher erbötig, Ihnen alles etwa noch fehlende Material zur Verfügung zu
stellen, so das Original der drei Sonette samt einer möglichst wortgetreuen
Prosaübersetzung, weiters die Übersetzungen, die mir noch zur Verfügung
stehen; es sind dies die von Bodenstedt, Gelbcke und Simrock. Sollten Sie
etwas gebrauchen wollen, so bitte ich um Verständigung.


Mit vorzüglicher Hochachtung
Dr. Flatter


Ich habe kürzlich über Aufforderung eines Freundes einen Aufsatz
darüber geschrieben, warum und zu welchem Zwecke ich es unternehme, Shakespeare neu zu übersetzen. Der erste Teil enthält meine Stellungnahme zu
den Arbeiten von Schlegel, Rothe und Gundolf; ich habe ihn weggenommen, weil
er Sie kaum interessieren dürfte. Dagegen erlaube ich mir, den übrigen Auf
satz zu übersenden, der vielleicht – wenn Sie die Freundlichkeit haben soll
ten, ihn durchzusehen – imstande ist, das Besondere darzulegen, das ich
nunmehr bei meiner Art, Shakespeare zu übersetzen, verfolge. Diese Inten
tionen, nämlich über die philologische Wörtlichkeit hinaus trotz Einhaltung
des Rhythmus und allenfalls auch noch des Reims das wiederzugeben, was man
mit einem allerdings unzulänglichen Wort als den Tonfall Shakespeares be
zeichnen kann, hatte ich bei meinen früheren Arbeiten nicht. Und das ist
der Grund, warum ich sie diese heute verurteile und warum ich gezwungen bin, sie
später einmal neu zu arbeiten.


Ich weiss, dass Sie die Aufgabe des Übersetzers anders auffas
sen; ich weiss dies nicht nur aus Ihrem letzten Brief, sondern auch aus
dem Macbeth- und Lear-Heft der „Fackel“. Es ist wohl richtig, dass bei den
Sonetten und den übrigen in den Dramen verstreuten Gedichten die Aufgabe
vor allem darin bestehen muss, ein Gedicht zu schaffen und nicht ein müh-
selig dahinkriechendes Produkt eines anglistischen Seminars, dass daher
dem Übersetzer hier mehr Freiheiten als sonst zugebilligt werden müssen; bei
den Dramen meine ich aber, dass nicht nur eine möglichst getreue, wenn
auch nicht gequälte Wörtlichkeit wiedergegeben werden muss, sondern auch
das, was den spezifischen Tonfall der eben sprechenden Person in eben
diesem Augenblick darstellt. Aber damit bin ich bereits mitten in dem,
was Sie selbst, sehr geehrter Herr Kraus, in Ihrer kritischen Abhandlung
untersuchen wollen; ich schweige daher, bin aber schon heute auf das
höchste gespannt, Ihre Arbeit kennenzulernen.


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