Sehr geehrter Herr Kraus!
Es ist mir – vor langer Zeit,
gleichfalls in Shakespeare
Dingen – schon einmal
widerfahren, dass ich auf ein an Sie gerichte
tes Schreiben vom Verlag „Die Fackel“ die
Antwort erhielt.
Das glei
che ist jetzt
geschehen. Ich nehme das nicht als Unfreundlichkeit,
zu der ich auch keinen Anlass
gegeben habe. Sie werden für Ihr Ver
halten sicherlich Gründe haben
und ich bin auch weder erstaunt noch
gekränkt; ich bitte nur, mir zu
gestatten, dass ich, gewohnt, jedem
in die Augen zu schauen, dabei
bleibe, Ihnen direkt zu schreiben.
Sie haben meine Absicht
missverstanden. Es war mir, so
sonderbar dies vielleicht auch klingen mag, wirklich nur darum zu tun,
Ihnen eine Freude zu machen.
Es ist wahr, Sie haben damals über mich
Dinge geschrieben, die man
kaum anders als Beschimpfungen be
zeichnen kann, haben die Gstanzeln über mich sogar bis in die letz
te Zeit öffentlich
vorgetragen; aber:
„Weil ihr mir Unrecht tut, sollt’
ich genau so handeln?
Misshandeln könnt ihr mich, doch niemals mich verwandeln.“
Ich war damals, wie es sich
gehört, – und bin es auch jetzt noch
zum Teil – beleidigt; aber dieses
rein persönliche Gefühl konnte
und kann meinen Respekt vor Ihrem Geist und Ihrer Sprachmeister
schaft nicht mindern. Warum
sollte ich also einem, mit dem ich mich,
über alles Persönliche hinweg, in
einer Sache, in der Shakespeare
Verehrung, verbunden fühle und
dem ich so viel Freude verdanke, nicht
auch eine Freude machen? Es ist
ja nur zu einem geringen Teil Eige
nes, was ich darbot; es ist ja
Shakespeare, den ich Ihnen schickte!
Gänzlich fern lag es mir,
Sie zu einer Revision Ihres
Tadels meiner „Mass für
Mass“-Übersetzung oder gar zu seiner öffent
lichen Widerrufung
veranlassen zu wollen. Ich selbst verurteile heu
te meinen „Mass für Mass“-Text – aus andern Gründen
allerdings als
den Ihrigen –
und würde ihn keiner Bühne mehr überlassen oder gar
zum Druck liefern. Auch wäre
es unsinnig, von Ihnen verlangen zu wol-
len, Sie sollten meine
damalige Übersetzung eines Dramas nachträglich
bloss deshalb für gut
halten, weil ich seither ein paar Sonette vielleicht
besser übersetzt habe, als dies andern gelungen ist. Nicht Ihr Urteil
über die eine Verdeutschung
von damals sollten Sie umstürzen, sondern –
vielleicht! – Ihr Urteil
über meine Übersetzerfähigkeiten überhaupt. Das
Urteil über das Jugendwerk
eines Malers, von ihm selbst mitunterschrieben,
soll aufrecht bleiben; aber
der Maler hat seither Anderes, vielleicht Bes
seres gemalt! Es wäre
Unrecht, jenes eine Urteil unrevidiert auf das ge
samte spätere Werk des
Malers auszudehnen.
Sie drei Tage blind sein und
obendrein dürsten und hungern
zu lassen, das habe ich Ihnen wirklich nicht zugedacht; nicht einmal für
die Beleidigungen hätte ich
Ihnen diesen Dunkelarrest zudiktiert. Nein,
so bin ich wahrhaftig nicht!
Mir aber ist es – nicht gerade wörtlich –
so widerfahren; ich bin
tatsächlich als Shakespeare-Übersetzer den Weg
nach Damaskus gegangen: Von meinen nun bald 13 Übersetzungen
bewerte ich
selbst nur die
letzten drei als gut und Shakespeare würdig; die
früheren,
einschliesslich
„Mass für Mass“, betrachte ich
heute nur noch als Vorar
beiten, die ich in ihrer
jetzigen Gestalt niemals veröffentlichen oder
aufführen lassen würde. Die
Gründe darzulegen, würde zu weit führen und
ich möchte auch Ihre Zeit
und Geduld nicht allzu sehr in Anspruch nehmen;
aber diese
Selbsteinschätzung meiner früheren Arbeiten zeigt wohl, dass
mein Weg zu Shakespeare – spät, aber doch nicht zu spät – eine völlige
Umkehr erfahren hat, dass
ich heute ein anderer bin als ich damals war.
Und sie zeigt vor allem
auch, dass es mir unmöglich darum zu tun sein
konnte, Sie zu einer
Änderung Ihrer von mir selbst geteilten „Mass fürMass“-Beurteilung bewegen zu wollen.
Ich konnte mir auch nicht
einfallen lassen, zu glauben, Sie
könnten meine Sonett-Übersetzungen
veröffentlichen; weiss ich doch, dass
Sie schon seit vielen Jahren
fremde Arbeiten in die „Fackel“
nicht mehr
aufnehmen. Und
dass Sie die verschiedenen Verdeutschungen der Sonette zum
Gegenstand einer „sprachkritischen
Untersuchung“ machen wollen, hätte
ich, in Erinnerung an das
Macbeth- und Lear-Heft, vielleicht ahnen können,
aber – was hilft’s? – ich
ahnte es nicht. Es bleibt also, sehr geehrter
Herr Kraus, keine
andere Erklärung für mein sicherlich absonderliches
Vorgehen, als dass ich mit
meiner Zusendung Ihnen eine Freude machen woll
te. Nehmen Sie mir’s nicht
übel, es war nicht bös gemeint!
Obwohl also meine Absicht
durchaus privat und keinesfalls
auf eine Veröffentlichung gerichtet war, so bin ich trotzdem, da ja mein
Shakespeare-Wirken, ob früher oder später, doch in die Öffentlichkeit
münden muss, ohne weiters damit
einverstanden, dass Sie von meinen Über
tragungen den angedeuteten
Gebrauch machen. Diese Zustimmung zum Abdruck
bezieht sich, Ihrem Wunsch
gemäss, auf die Sonette 81, 116, 129. (Nicht
aber auf meine Briefe, die, wie ich wohl kaum betonen muss, jedenfalls pri
vat gemeint und nur
für Sie persönlich bestimmt sind.) Ich will sogar mehr
tun: Ich weiss zwar, dass ich
Ihnen damit Werkzeug zu meiner eigenen Hin
richtung liefere; ich weiss aber
auch, wie packend und aufwühlend Ihre
sprachkritische Vergleichung oder
gar Ihre eigene Nachdichtung wäre – und
diese Dinge sind zweifellos
wichtiger als meine Reputation. Ich mache mich
daher erbötig, Ihnen alles etwa
noch fehlende Material zur Verfügung zu
stellen, so das Original der drei
Sonette samt einer möglichst
wortgetreuen
Prosaübersetzung,
weiters die Übersetzungen, die mir noch zur Verfügung
stehen; es sind dies die von Bodenstedt, Gelbcke und Simrock. Sollten Sie
etwas gebrauchen wollen, so bitte
ich um Verständigung.
Mit vorzüglicher
Hochachtung
Dr. Flatter
Ich habe kürzlich über
Aufforderung eines Freundes einen Aufsatz
darüber geschrieben, warum und zu
welchem Zwecke ich es unternehme, Shakespeare neu zu übersetzen.
Der erste Teil enthält meine Stellungnahme zu
den Arbeiten von Schlegel, Rothe und Gundolf; ich habe ihn weggenommen, weil
er Sie kaum interessieren dürfte.
Dagegen erlaube ich mir, den übrigen Auf
satz zu übersenden, der
vielleicht – wenn Sie die Freundlichkeit haben soll
ten, ihn durchzusehen – imstande
ist, das Besondere darzulegen, das ich
nunmehr bei meiner Art, Shakespeare zu übersetzen, verfolge. Diese Inten
tionen, nämlich über
die philologische Wörtlichkeit hinaus trotz Einhaltung
des Rhythmus und allenfalls auch
noch des Reims das wiederzugeben, was man
mit einem allerdings
unzulänglichen Wort als den Tonfall Shakespeares
be
zeichnen kann,
hatte ich bei meinen früheren Arbeiten nicht. Und das ist
der Grund, warum ich
sie
diese
heute verurteile und warum ich gezwungen bin, sie
später einmal neu zu arbeiten.
Ich weiss, dass Sie die
Aufgabe des Übersetzers anders auffas
sen; ich weiss dies nicht
nur aus Ihrem letzten Brief, sondern auch aus
dem Macbeth- und Lear-Heft der „Fackel“. Es ist wohl richtig, dass
bei den
Sonetten und den übrigen in den Dramen
verstreuten Gedichten die Aufgabe
vor allem darin bestehen
muss, ein Gedicht zu schaffen und nicht ein müh-
selig dahinkriechendes
Produkt eines anglistischen Seminars, dass daher
dem Übersetzer hier mehr Freiheiten als sonst zugebilligt
werden müssen; bei
den Dramen
meine ich aber, dass nicht nur eine möglichst getreue, wenn
auch nicht gequälte
Wörtlichkeit wiedergegeben werden muss, sondern auch
das, was den spezifischen
Tonfall der eben sprechenden Person in eben
diesem Augenblick darstellt.
Aber damit bin ich bereits mitten in dem,
was Sie selbst, sehr
geehrter Herr Kraus, in Ihrer kritischen Abhandlung
untersuchen wollen; ich
schweige daher, bin aber schon heute auf das
höchste gespannt, Ihre
Arbeit kennenzulernen.