Sonnet 129Shakespeare’s Sonnets


Herr Karl Kraus wünscht den Briefwechsel mit mir nicht
weiter fortgesetzt; ich füge mich diesem Wunsche, wenn auch mit Be
dauern, da wir uns jetzt dem interessantesten Teil des Themas, dem
rein sprachlichen, erst richtig genähert haben. Jedenfalls danke
ich Herrn Kraus für die Ausführlichkeit seines letzten Schreibens
und die eingehende Sorgfalt, mit der er meine Übersetzungen, den
Essay und meine Briefe prüfte und auf sie erwiderte. Ich muss Sie
jedoch bitten, ihm ausser diesem Dank noch folgendes übermitteln
zu wollen:


Ich wollte, wenn ich schon überhaupt – was meiner ur
sprünglichen Absicht völlig ferne lag – in die Öffentlichkeit ge
bracht werden sollte, nicht persönlich, sondern bloss sachlich,
mit meinen Übersetzungen, hinausgestellt werden; das war der Grund, wes
halb ich meine Briefe als privat gemeint bezeichnete, was sie auch
tatsächlich waren, und weshalb ich ihren Abdruck vermeiden wollte.
Da jedoch Herr Kraus, wie er mir mitteilte, seine Antworten auf meine
Briefe zu veröffentlichen beabsichtigt, so erkläre ich mich nunmehr
damit einverstanden, dass im Zusammenhange mit seinen Antworten auch
meine Briefe veröffentlicht werden, ja, ich bitte ihn sogar darum.
Audiatur et altera pars ist wohl ein Gebot der Gerechtigkeit und es
erscheint mir überdies untunlich, dem Publikum einen Dialog zu bieten,
von dem nur die eine Stimme hörbar wird.


Vielleicht darf ich noch einiges zu den gestern gehör
ten Nachdichtungen der Sonette sagen, soviel prima audita gesagt
werden kann:


Eine Ausnahme, die ich vorweg besprechen will, bilden
die beiden Sonette über das „Will“-Wortspiel. Bei diesen muss dem
Nachdichter, weil es sich eben um ein Wortspiel handelt, die grösstmög
liche Freiheit zugebilligt werden und deshalb war ich auch von diesen
beiden Nachdichtungen, die das Wortspiel mit aller erforderten Grazie
wiedergeben, restlos zufriedengestellt. Von den andern Nachdichtungen
kann ich nur sagen, dass sie sich auf’s erste Hören hin als ungehemmt
fliessende Gedichte, voll Schwung und Pathos, darstellen, wieweit sie
aber Karl Kraus und wieweit sie Shakespeare wiedergeben, das wird erst
eine spätere Vergleichung ergeben können und ich fürchte, Herrn Kraus mit
grösserer Berechtigung den Vorwurf zurückgeben zu müssen, den er mir
machte, als er an meinen Übersetzungen ausstellte, es sei, was ich dar
biete, mehr Eigenes als Shakespeare.


Darauf aber würde sich ja überhaupt die Debatte zuspitzen,
nämlich auf die Frage, was wichtiger sei: ein, absolut genommen, gutes,
möglichst gutes Gedicht zu schaffen und sich dabei von den Fesseln der
Übersetzertätigkeit, aber schliesslich auch von Shakespeare selbst, zu
befreien oder: ob die Aufgabe darin besteht, sich diesen Fesseln zu fü
gen und im eng abgesteckten Bereich dieser Unfreiheit als Übersetzer,
demnach als Diener Shakespeare, das Erreichbare zu leisten. Die Frage
würde dann im besonderen so lauten, ob es erlaubt ist, Shakespeare zu
verbessern, oder ob eine solche Verbesserung nicht ein ebenso grosses Un
recht darstellt wie das, ihn zu verschlechtern. Ich meine, dass es einem
Maler, der z.B. ein Rembrandt-Bild kopiert, ebenso wie er sein Vorbild
nicht verschlechtern darf, auch verwehrt sein muss, etwa eine Verzeich
nung im Original zu korrigieren.


Herr Kraus jedoch korrigiert. Wenn er z.B. in meiner Über
setzung des Sonetts 129 in der Zeile:
„Vorher – ersehntes Glück, nachher – ein Traum.“
das Wort „Traum“ tadelt, so ist dieser Vorwurf, vom Standpunkt eines
Dichters aus, vielleicht berechtigt, er richtet sich jedoch nicht gegen
mich als Übersetzer, sondern gegen den Autor selbst. Bei Shakespeare
lautet die Zeile:
„Before, a joy propos’d; behind, a dream.“
Wörtlich: „Vorher – (der Beistrich an dieser Stelle bedeutet im Engli
schen genau das, was im Deutschen der Gedankenstrich ist) eine vorgenom
mene Freude, nachher – ein Traum.“ Da die Begriffe „dream“ und „Traum“
sich absolut decken, wäre mir, vom Standpunkt des Übersetzers aus, ein
Vorwurf nur dann zu machen, wenn ich das Wort „Traum“ genau an dieser
Stelle nicht gebracht hätte. Die früheren Übersetzer brachten es nur
deshalb nicht, weil sie keinen entsprechenden Reim zur Verfügung hatten
ich fand aber das vorausgehende Reimwort und so hätte ich es, von meinem
lediglich dienenden Standpunkt aus, für ein Verbrechen gehalten, die an
geführte Zeile anders als wörtlich wiederzugeben. Wenn Herr Kraus das
Wort „Traum“ an dieser Stelle als zu wohltuend empfindet, so mag er sub
jektiv Recht haben, der Autor aber hat anders empfunden und anderes ge
wollt. Auch Shakespeare hätte, wenn er „Nichts“ oder „Leere“ oder dgl.
hätte schreiben wollen, entsprechende Ausdrücke (nothing, naught etc.)
zur Verfügung gehabt, wobei ihm der Reim gewiss keine Schwierigkeiten ver
ursacht hätte; wenn er trotzdem „dream“ schrieb, so hat, meine ich, kein
Mensch, solange er sich darauf beschränkt, zu übersetzen, das Recht,
Shakespeare (nicht bloss formal, sondern auch inhaltlich) zu verbessern.
Eine solche Verbesserung, die, wenn auch noch so gut gemeint, aus Eigenem
hinzufügt, entstellt das Original genau so wie eine Verschlechterung, die
vom Original abstreicht. Beide tun dem Autor Unrecht, der auf seine Vor
züge ein eben solches Anrecht besitzt wie auf seine Mängel und der sich
gegen Verbesserungen vielleicht noch mehr wehren würde als gegen Ver
schlechterungen.


Herr Kraus beschränkt sich nicht darauf, zu übersetzen,
er will nachdichten; er begnügt sich nicht damit, zu kopieren, er will
– ähnlich wie etwa van Gogh Rubens-Bilder nicht kopiert, sondern auf eige
ne Manier nachgemalt hat – nachschaffen. Dagegen ist natürlich nichts zu
sagen. Warum sollte nicht ein Maler den andern, ein Dichter den andern
zu einer Nachschöpfung anregen? Es ist nur das eine zu verlangen, dass
diese Tatsache nach aussen hin in die Erscheinung tritt, dass nicht als
Kopie, als Übersetzung gilt, was in Wahrheit ein mehr oder weniger freies
eigenes Kunstwerk darstellt. Ein solcher Nachdichter steht, ich weiss
nicht, ob auf einer höheren oder niedrigeren Stufe, jedenfalls aber auf
einer anderen Stufe als der Übersetzer, der sich nicht der bleigewichti
gen Fesseln des Übersetzeramtes entledigt und nach eigenen Lorbeern
greift, sondern seine Befriedigung und sein höchstes Glück darin sucht
und findet, einem Genius in Treue zu dienen und dadurch am redlichsten
zu dienen glaubt, dass er das ihm vorliegende Urbild zwar vom Staub der
Jahrhunderte reinigt, sonst aber mit möglichster Genauigkeit fein säuber
lich kopiert und nichts weglässt, noch weniger aber hinzufügt. Auf diese
ehrlichen, braven Kopisten, zu denen mit Stolz auch ich mich zähle, kann
man ja, wenn man durchaus will und vor allem, wenn man ein Dichter ist,
nachsichtig lächelnd herabsehen, aber es ist ein Unrecht, ihr ernstes
Bestreben, ihre Bescheidung, vor allem ihre selbstlose Unterordnung unter
den grossen Genius als Unvermögen anzusehen und lächerlich zu machen, auch
wenn dieses Bestreben, wie dies insbesondere bei George der Fall ist,
auf einen Irrweg führt. Der Übersetzer will bloss das Vorhandene herüber
setzen, der Nachdichter will Eigenes schaffen; auf einen gemeinsamen Nen
ner sind sie eigentlich nicht zu bringen. Der Nachdichter wird und muss
sich bemühen, sich vom Original zu entfernen, und wird dies um so mehr
tun, je grösser er selbst ist, je mehr er also Eigenes zu geben hat, wäh
rend der Übersetzer, je besser er sein will, sich um so mehr dem Original
nähern und sich krampfhaft bemühen wird, aus Eigenem möglichst wenig bei
zufügen. Der Nachdichter wird sich vom Original, je grösser er selbst
als Dichter ist, um so leichter unabhängig machen, während sich der Über
setzer an die Vorlage gar nicht eng genug anklammern kann. Dem steht
er allerdings gegenüber, dass den Nachdichter – und je freier er sich vom
Original gemacht hat, um so leichter – jeder beurteilen darf, den Über
setzer aber nur der, der das Original in Händen hält.


Nachdichten darf der Dichter; der Übersetzer darf kein Dich
ter sein: er würde sonst zu leicht der Versuchung unterliegen, statt zu
übersetzen, zu dichten. Das Handwerkzeug des Kopisten muss er allerdings
völlig beherrschen, das darf von ihm füglich verlangt werden. Mit andern
Worten:
Er muss dichterische Fähigkeiten besitzen, darf aber selbst kein
Dichter sein. Darin lag auch die Grösse Schlegels, dass er hohe dichte
rische Fähigkeiten besass, ohne selbst Dichter zu sein, die Mängel sei
ner Mitarbeiter und gar seiner Nachfahren liegen darin, dass sie – wie
etwa Bodenstedt und Heyse – zwar vielleicht als Dichter grösser waren,
aber das für die Übersetzung Shakespeares nötige Handwerk nicht beherrsch
ten.


Ich bin im Zuge des Diktats weiter geraten als ich eigent
lich wollte; aber die Dinge, um die es hier geht, sind viel zu wichtig,
als dass ich der Versuchung, wenigstens einen Teil von ihnen auszuspre
chen, nicht unterlegen wäre. Mit nochmaligem Dank an Herrn Kraus für sein
letztes Schreiben und mit der Bitte, ihm diesen Brief übermitteln zu wol
len, zeichne ich


hochachtungsvoll
Dr. Flatter