Herr Karl Kraus wünscht
den Briefwechsel mit mir nicht
weiter fortgesetzt; ich füge mich diesem Wunsche, wenn auch mit Be
dauern, da wir uns jetzt dem
interessantesten Teil des Themas, dem
rein sprachlichen, erst richtig
genähert haben. Jedenfalls danke
ich Herrn Kraus
für die Ausführlichkeit seines letzten Schreibens
und die eingehende Sorgfalt, mit
der er meine Übersetzungen, den
Essay und meine Briefe prüfte und auf sie erwiderte. Ich muss
Sie
jedoch bitten, ihm ausser
diesem Dank noch folgendes übermitteln
zu wollen:
Ich wollte, wenn ich schon
überhaupt – was meiner ur
sprünglichen Absicht völlig ferne
lag – in die Öffentlichkeit ge
bracht werden sollte, nicht
persönlich, sondern bloss sachlich,
mit meinen Übersetzungen,
hinausgestellt werden; das war der Grund, wes
halb ich meine Briefe als privat
gemeint bezeichnete, was sie auch
tatsächlich waren, und weshalb ich ihren Abdruck vermeiden wollte.
Da jedoch Herr Kraus, wie er mir
mitteilte, seine Antworten auf meine
Briefe zu veröffentlichen
beabsichtigt, so erkläre ich mich nunmehr
damit einverstanden, dass im
Zusammenhange mit seinen Antworten auch
meine Briefe veröffentlicht
werden, ja, ich bitte ihn sogar darum.
Audiatur et altera pars ist wohl
ein Gebot der Gerechtigkeit und es
erscheint mir überdies untunlich, dem Publikum einen Dialog zu bieten,
von dem nur die eine Stimme
hörbar wird.
Vielleicht darf ich noch einiges
zu den gestern gehör
ten Nachdichtungen der Sonette sagen,
soviel prima audita gesagt
werden
kann:
Eine Ausnahme, die ich vorweg
besprechen will, bilden
die
beiden Sonette über das „Will“-Wortspiel. Bei diesen muss dem
Nachdichter, weil es sich eben
um ein Wortspiel handelt, die grösstmög
liche Freiheit zugebilligt werden
und deshalb war ich auch von diesen
beiden Nachdichtungen, die das
Wortspiel mit aller erforderten Grazie
wiedergeben, restlos
zufriedengestellt. Von den andern Nachdichtungen
kann ich nur sagen, dass sie sich
auf’s erste Hören hin als ungehemmt
fliessende Gedichte, voll Schwung
und Pathos, darstellen, wieweit sie
aber Karl Kraus und
wieweit sie Shakespeare wiedergeben, das wird erst
eine spätere Vergleichung ergeben
können und ich fürchte, Herrn Kraus mit
grösserer Berechtigung den Vorwurf zurückgeben zu müssen, den er mir
machte, als er an meinen
Übersetzungen ausstellte, es sei, was ich dar
biete, mehr Eigenes als Shakespeare.
Darauf aber würde sich ja
überhaupt die Debatte zuspitzen,
nämlich auf die Frage, was wichtiger sei: ein, absolut genommen, gutes,
möglichst gutes Gedicht zu
schaffen und sich dabei von den Fesseln der
Übersetzertätigkeit, aber
schliesslich auch von Shakespeare selbst, zu
befreien oder: ob die Aufgabe darin besteht, sich diesen
Fesseln zu fü
gen und
im eng abgesteckten Bereich dieser Unfreiheit als Übersetzer,
demnach als Diener Shakespeare, das Erreichbare zu leisten. Die Frage
würde dann im besonderen so
lauten, ob es erlaubt ist, Shakespeare zu
verbessern, oder ob eine solche
Verbesserung nicht ein ebenso grosses Un
recht darstellt wie das, ihn zu
verschlechtern. Ich meine, dass es einem
Maler, der z.B. ein Rembrandt-Bild kopiert, ebenso wie er sein Vorbild
nicht verschlechtern darf, auch
verwehrt sein muss, etwa eine Verzeich
nung im Original zu korrigieren.
Herr Kraus jedoch
korrigiert. Wenn er z.B. in meiner Über
setzung des Sonetts 129 in der Zeile:
„Vorher – ersehntes Glück, nachher
– ein Traum.“
das Wort
„Traum“ tadelt, so ist dieser Vorwurf, vom Standpunkt eines
Dichters aus, vielleicht
berechtigt, er richtet sich jedoch nicht gegen
mich als Übersetzer, sondern
gegen den Autor selbst. Bei Shakespeare
lautet die Zeile:
„Before, a joy propos’d; behind, a
dream.“
Wörtlich:
„Vorher – (der Beistrich an dieser Stelle bedeutet im Engli
schen genau das, was im Deutschen
der Gedankenstrich ist) eine vorgenom
mene Freude, nachher – ein
Traum.“ Da die Begriffe „dream“ und „Traum“
sich absolut decken, wäre mir,
vom Standpunkt des Übersetzers aus, ein
Vorwurf nur dann zu machen, wenn
ich das Wort „Traum“ genau an dieser
Stelle nicht gebracht hätte. Die früheren Übersetzer brachten es nur
deshalb nicht, weil sie keinen
entsprechenden Reim zur Verfügung hatten
ich fand aber das vorausgehende
Reimwort und so hätte ich es, von meinem
lediglich dienenden Standpunkt
aus, für ein Verbrechen gehalten, die an
geführte Zeile anders als
wörtlich wiederzugeben. Wenn Herr Kraus das
Wort „Traum“ an dieser Stelle
als zu wohltuend empfindet, so mag er sub
jektiv Recht haben, der Autor aber hat anders empfunden und anderes ge
wollt. Auch Shakespeare hätte, wenn er „Nichts“ oder „Leere“ oder
dgl.
hätte schreiben wollen,
entsprechende Ausdrücke (nothing, naught etc.)
zur Verfügung gehabt, wobei ihm
der Reim gewiss keine Schwierigkeiten ver
ursacht hätte; wenn er trotzdem
„dream“ schrieb, so hat, meine ich, kein
Mensch, solange er sich darauf
beschränkt, zu übersetzen, das Recht,
Shakespeare (nicht bloss formal, sondern auch inhaltlich) zu verbessern.
Eine solche Verbesserung, die,
wenn auch noch so gut gemeint, aus Eigenem
hinzufügt, entstellt das Original
genau so wie eine Verschlechterung, die
vom Original abstreicht. Beide
tun dem Autor Unrecht, der auf seine Vor
züge ein eben solches
Anrecht besitzt wie auf seine Mängel und der sich
gegen Verbesserungen vielleicht
noch mehr wehren würde als gegen Ver
schlechterungen.
Herr Kraus beschränkt
sich nicht darauf, zu übersetzen,
er will nachdichten; er begnügt sich nicht damit, zu kopieren, er will
– ähnlich wie etwa van Gogh
Rubens-Bilder nicht kopiert, sondern auf eige
ne Manier nachgemalt
hat – nachschaffen. Dagegen ist natürlich nichts zu
sagen. Warum sollte nicht ein
Maler den andern, ein Dichter den andern
zu einer Nachschöpfung anregen?
Es ist nur das eine zu verlangen, dass
diese Tatsache nach aussen hin in
die Erscheinung tritt, dass nicht als
Kopie, als Übersetzung gilt, was
in Wahrheit ein mehr oder weniger freies
eigenes Kunstwerk darstellt. Ein
solcher Nachdichter steht, ich weiss
nicht, ob auf einer höheren oder
niedrigeren Stufe, jedenfalls aber auf
einer anderen Stufe als der
Übersetzer, der sich nicht der bleigewichti
gen Fesseln des Übersetzeramtes
entledigt und nach eigenen Lorbeern
greift, sondern seine
Befriedigung und sein höchstes Glück darin sucht
und findet, einem Genius in Treue
zu dienen und dadurch am redlichsten
zu dienen glaubt, dass er das ihm
vorliegende Urbild zwar vom Staub der
Jahrhunderte reinigt, sonst aber
mit möglichster Genauigkeit fein säuber
lich kopiert und nichts weglässt,
noch weniger aber hinzufügt. Auf diese
ehrlichen, braven Kopisten, zu
denen mit Stolz auch ich mich zähle, kann
man ja, wenn man durchaus will
und vor allem, wenn man ein Dichter ist,
nachsichtig lächelnd herabsehen,
aber es ist ein Unrecht, ihr ernstes
Bestreben, ihre Bescheidung, vor
allem ihre selbstlose Unterordnung unter
den grossen Genius als Unvermögen
anzusehen und lächerlich zu machen, auch
wenn dieses Bestreben, wie dies
insbesondere bei George der Fall ist,
auf einen Irrweg führt. Der
Übersetzer will bloss das Vorhandene herüber
setzen, der Nachdichter will
Eigenes schaffen; auf einen gemeinsamen Nen
ner sind sie eigentlich nicht zu
bringen. Der Nachdichter wird und muss
sich bemühen, sich vom Original
zu entfernen, und wird dies um so mehr
tun, je grösser er selbst ist, je
mehr er also Eigenes zu geben hat, wäh
rend der Übersetzer, je besser er
sein will, sich um so mehr dem Original
nähern und sich krampfhaft
bemühen wird, aus Eigenem möglichst wenig bei
zufügen. Der Nachdichter wird
sich vom Original, je grösser er selbst
als Dichter ist, um so leichter
unabhängig machen, während sich der Über
setzer an die Vorlage gar nicht
eng genug anklammern kann. Dem steht
er allerdings gegenüber, dass den
Nachdichter – und je freier er sich vom
Original gemacht hat, um so
leichter – jeder beurteilen darf, den Über
setzer aber nur der, der das
Original in Händen hält.
Nachdichten darf der Dichter;
der Übersetzer darf kein Dich
ter sein: er würde sonst zu
leicht der Versuchung unterliegen, statt zu
übersetzen, zu dichten. Das
Handwerkzeug des Kopisten muss er allerdings
völlig beherrschen, das darf von
ihm füglich verlangt werden. Mit andern Er muss
dichterische Fähigkeiten besitzen, darf aber selbst kein
Worten:
Dichter sein. Darin lag auch die
Grösse Schlegels, dass er hohe dichte
rische Fähigkeiten besass, ohne
selbst Dichter zu sein, die Mängel sei
ner Mitarbeiter und gar seiner
Nachfahren liegen darin, dass sie – wie
etwa Bodenstedt und Heyse – zwar
vielleicht als Dichter grösser waren,
aber das für die Übersetzung Shakespeares nötige Handwerk nicht beherrsch
ten.
Ich bin im Zuge des Diktats
weiter geraten als ich eigent
lich wollte; aber die Dinge, um
die es hier geht, sind viel zu wichtig,
als dass ich der Versuchung,
wenigstens einen Teil von ihnen auszuspre
chen, nicht unterlegen wäre. Mit
nochmaligem Dank an Herrn Kraus für sein
letztes Schreiben und mit der Bitte, ihm diesen Brief übermitteln zu wol
len, zeichne ich
hochachtungsvoll
Dr. Flatter