Der Privatkläger
gibt nichts zu, was er „bisher stets bestritten
hat“. Das
Abkommen zwischen Kerr und dem Angeklagten „rügt“ er aller
dings. Aber er
hat mit Recht bestritten, daß er es in seiner Rede be
hauptet h
a
ä
tte. Er hat damals nur das Schweigen des „Berliner
Tageblattes“
auf den
schwerwiegenden Vorwurf in der „Prager
Presse“ gerügt.
Zu diesem Abkommen selbst sagt der Schriftsatz, daß wenn es tat
sächlich geschlossen wäre,
die vom Angeklagten vorgelegten Kritiken
„eine Vertragsverletzung
bedeuten würden“. Aber selbst wenn ein schrift
licher Vertrag, der „eine Bindung des
Herrn Kerr
in Beziehung auf
Reinhardt“ vorschreibt, bestünde –
was niemand zu behaupten töricht ge
nug war, da solche
Vereinbarungen oder Verständigungen ganz anders er
folgen –, so würden die
vorgelegten Kritiken bei weitem keine Vertrags
verletzung bedeuten. (Auch dann nicht, wenn der Vertrag kein
unsittli
cher
Vertrag wäre.) Denn in der Form, in der
es Herr Kerr
getan hat,
konnte er ohne die
Gefahr des Vertragsbruchs getrost wider den Stachel
löken. Die Art nun, wie Herr
Kerr
scheinbar vertragsuntreu wurde, ist
ein nicht hoch genug
einzuschätzender Beweis
dafür, daß er
sich im Banne einer
Bindung gefühlt
hat.
Der Angeklagte
hatte es gemäß dem Gerichtsbeschluß übernommen, die
nach dem Engagement des Herrn Kerr
erschienenen Kritiken, von denen der
Ank
K
läger behauptet, daß sie sanftmütigen Charakters im Punkte Reinhardt seien,
beizustellen. Er ist dieser Verpflichtung in geradezu mu
stergültiger Weise
nachgekommen. In seinem Interesse war es gelegen,
darzutun, daß Herr Kerr auch nach
dem Engagement, nach dem Abkommen,
Reinhardt angegriffen habe, und so muß man wohl annehmen, daß
er die
schärfsten Angriffe
gegen Reinhardt hervorgesucht hat. Das
Ergebnis
dieser Suche ist
erschütternd. Es ist nun weit mehr bewiesen, als daß
Herr Kerr ein
gezähmtes Wesen zur Schau trug. Daß er nicht spornstreichs
zum Fanatiker für Herrn Reinhardt w
u
ü
rde, war doch wohl zu erwarten und
kein Abkommen hätte ihn zu
so etwas verpflichten können. Aber es warwohl bemerklich viel erreicht, wenn aus
dem ehemaligen prononcierten
Angreifer, dem Herr Reinhardt einmal sogar den
Zutritt zu
seinem
m
Par
kett
verwehrt haben soll, ein so behutsamer Tadler, ein so zögernder
Ironiker wurde,
dem natür
welchem frei
lich kein Chefredakteur verwehren kann, daß er
bei seiner (in diesem Fall
sogar richtigen) Ansicht und Kunstanschauung
verbleib
t
e
– über das Treppenunwesen u.dgl. –, wenn er si
ch
e
nu
n
r
endlich in
gemäßigten und gebändigten Formen äußert. Aber Herr Kerr hat ein
Übri
ges
getan, nämlich den Beweis dafür hergestellt, daß
von ihm eine gründliche
Remedur seiner kritischen Tonart verlangt und erwartet
wurde. Er lökt
sichtlich
wider den Stachel, und nicht diese „Vertragsverletzung“
ist
ein Beweis dagegen,
daß ein Vertrag
nicht besteh
t
e
, sondern die Offen-
heit, mit der er sich gegen
eine Bindung wehrt, mit der er förmlich davon spricht
daß man sie in
weitergehendem Maß ihm nicht auferlegen könne, ist ein
Beweis für die Bindung.
Die Kritik enthält rot
angestrichene Stellen, die besonders augen
fällig dartun sollen, wie
resolut Herr Kerr nach wie vor im kritischen
Angriff war. Worin besteht
dieser? „Vertraulichkeit des Zuschauers war
nie erwünscht.
Der nächste Schritt wäre: ‚Macbeth’n, Sie trippen!‘“
Diese jokose Berufung auf
die alte Theateranekdote, wonach ein Zuschau
er die Lady Macbeth darauf
aufmerksam gemacht hat, daß die Kerze tröpf
le, dürfte Herrn Reinhardt kaum aufgeregt haben
, d
. D
aß „Vertraulichkeit
des
Zuschauers nie erwünscht“ war, diese Feststellung
ist
wäre
wirklich kein
Vertragsbruch, sie dürfte weder seinem direktorialen Selbstbewußtsein
noch seiner Kasse
nahegetreten sein, und das Hervorheben der Stelle
durch Rotstrich kann einen
schwerlich davon überzeugen, daß Herr Kerr
seine schrankenlose
Unabhängigkeit bewahrt hatte. Wie es in Wahrheit mit
dieser steht, zeigt aber die
nächste rot angestrichene Stelle, die mit
erstaunlicher Offenheit zu
erkennen gibt, wie der Kritiker
fürchten
mußte, sich selbst durch so
schüchternen Tadel die Unzufriedenheit des
Chefredakteurs
zu erwerben
, d
. D
ie Stelle, die der Angeklagte vorzuweisen
und extra rot anzustreichen
für taktisch richtig befunden hat, lautet:
„Liegt nicht in alledem eine
Lust am Zurückschrauben? Man hielte sich
für einen Schubiack,
wenn man das nicht offen sagte – unbekümmert um die
Bücher.“ Welche
Bücher da der Herr Kerr gemeint hat, ist nicht ganz klar,
aber sicher ist, daß er hier vor allem ausdrücken wollte, er sei auch
um etwas anderes
unbekümmert, das heißt: doch so weit bekümmert, daß er
sich eben gedrungen fühlt,
es zu sagen. „Man hielte sich für einen Schu
biack“.
Ja, warum denn das? Wieso steht denn plötzlich das Schubiacktum
eines Kritikers zur
Diskussion, von dem man doch erwartet, daß er fort
fahren wird, seine kritische
Überzeugung auszusprechen und Reinhardt wie
gewohnt anzugreifen? Die Leserschaft hat ihm dieses Problem keineswegs
gestellt
auferlegt
. Aber ist es nicht, als ob er sich hier mit einem andern über
ihm waltenden Einfluß
auseinandersetzte? Ist es nicht psychologisch un
zweifelhaft
verkennbar
, daß hier förmlich die Gegenwehr gegen den Versuch erfolgt
ist, in die Domäne seiner Überzeugung einzugreifen? Will er nicht
klar
ausdrücken: Also
schön, wenn wir uns schon im Punkte Reinhardt
ver
ständigt
haben, meine Ansicht lasse ich mir nicht nehmen, so weit kann
die Bindung nicht gehen, ich
wäre sonst ein Schubiack!? Aber der Chefre
dakteur wollte vielleicht
nicht einmal die „Überzeugung“ kassieren, und
der Kritiker fürchtete es
mit Unrecht. Ist es nicht, als ob er hier die
Grenze der redaktionellen
Abhängigkeit ertasten wollte? Reinhardt nicht
mehr persönlich attackieren
– meinetwegen, aber das Große Schauspielhaus
nicht mehr zu groß finden,
das lasse ich mir nicht vorschreiben, da
wäre ich ja ein Schubiack!
Und selbst die Herren Wolff und Reinhardt
haben
ihm vielleicht
darin beigepflichtet und ihn beruhigt: „Machen Sie sich
keine Sorgen, lieber Kerr, die
Dimension dürfen Sie weiter angreifen!“
Daß Herr Kerr mehr als
solches getan hat, dürfte aus der vorgelegten
Kritik
kaum zu beweisen sein.
Diese Kritik mit dieser Stelle aufzufinden (und rot
anzustreichen), hätte der Angeklagte
dem
Ank
K
Kläger überlassen müssen. Sie war schon vom Herrn Kerr aus
selbst
mörderisch. Sie ist es nunmehr von Herrn Wolff aus. Sie
ist ein geradezu
umfassender
Beweis für die – natürlich nicht vertragsmäßig festgelegte –
Verständigung, die zwischen den Herren Theodor Wolff
und Alfred
Kerr „in
Beziehung auf Reinhardt“ erfolgt war. Ja, jener
offenbare
merkliche
Widerspruch
gegen die Verständigung ist
ein Beweis für sie. Ein Ausdruck der Unzu
friedenheit mit dem
Vertrag, keineswegs ein Bruch desselben, den Herr
Theodor Wolff
sich wohl gehütet hätte zivilrechtlich zu belangen, selbst
wenn das nach der
Beschaffenheit des „Vertrags“ möglich
gewesen wäre.
Herr Kerr wußte
genau, wie weit er gehen konnte, und seine Äußerung
klingt geradezu wie der
Abschluß von redaktionellen Debatten darüber,
daß er sich bei aller
„Einlenkung“ in die Ansicht selbst nicht
dreinreden lasse?
Weitere Unterstreichungen
beweisen dann nur noch, in wie zufrieden
stellender Weise die
Einlenkung vollzogen war. Wenn Herr Kerr gegen
Reinhardt keine stärkere Vehemenz aufbrachte als Sätze wie:
„Aus der
Seelenszene wird
allerdings oft eine Gliederszene.“ oder „Eine kleine
Perversion“, so
hatte der Chefredakteur zugunsten des ihm befreundeten
Theaterdirektors wohl allerhand erreicht. Daß Herr Kerr sein
dramatur
gisches
Glaubensb
B
bekenntnis ändern
würde
müsse
, war beim Engagement gewiß nicht vorge
sehen, sicherlich nicht
einmal, daß er seiner prinzipiellen Aversion
gegen das besondere Zirkustheater zu entsagen habe. Wie er aber sogar die schüch
ternen Einwände,
die er dagegen verbringt, schon als Belastung des Ein
verständnisses, auf Grund
dessen das Engagement
vollzogen
durchgeführt
wurde, empfindet,
zeigt wieder die angestrichene Stelle: „Muß ein
Kritiker das nicht sa
gen? …“
Ja warum denn nicht? Ein Kritiker muß sagen, was er meint!
Aber wenn er – vielleicht
mit Unrecht – ein schlechtes Gewissen gegen
über dem Chefredakteur
hat, der mit dem Getadelten
verbunden
liiert
ist, so
entschuldigt er sich dafür, so sagt er es zwar, aber er
setzt auch hinzu
„Muß ein Kritiker
das nicht sagen?“ Solche Wendungen hat Herr Kerr in
der kritischen Tätigkeit,
die er gegen Reinhardt
vor dem Engagement beim
‚Berliner
Tageblatt‘ entfaltet hat, niemals gebraucht.
Aber wahrhaft erschütternd
ist die Deduktion des Angeklagten in dem
„Nachtrag“. Hier wird
einem Beweis, der sein eigener Gegenbeweis ist
und nicht der gegen die
Vorbringung des
Ank
K
Klägers, sichtlich mit dem
Spiel
Trick
des Tonfalls nachgeholfen. Es heißt da: „Auch in
späteren Kriti
ken – über
solche Aufführungen des Großen
Schauspielhauses, die nicht
von Reinhardt selbst inszeniert waren – ist diese seine
eigenste Grün
dung … in schärfster Art abgelehnt, ja lächerlich
gemacht worden.“
Wenn lächerlich gemacht, das
heißt, wenn Reinhardt
dabei lächerlich
gemacht
wurde so möge es vorgewiesen werden! Der Angeklagte hat
es sich
wohl nicht entgehen
lassen, schon diesmal die schärfste Lächerlichma
chung Reinhardts beizubringen. Aber in dem eingeschalteten Satz
wird,
als ob es der
Beweisführung zugutekäme, gesagt, diese Aufführungen
seien „nicht von Reinhardt selbst
inszeniert“ gewesen. Der
Ank
K
Kläger
zweifelt nun tatsächlich
nicht, daß diese Inszenierungen späterhin in
höherem Maße lächerlich
gemacht wurden als die des Herrn Reinhardt
selbst, der weit
glimpflicher davon kam und vielleicht gar nichts dage
gen hatte, daß eine
Inszenierung des Herrn Karlheinz Martin
lächerlich
gemacht wurde,
selbst wenn sie auf der Bühne stattfand, die Reinhardts
„eigenste Gründung“
war. Tatsächlich wird das Zitat über eine solche
Inszenierung beigebracht:
„Ein kindisches Zurückschrauben. Ein lächer
liches Aus-der-Stimmung-reißen.“ Sollte nicht eben der
Kontrast zu der
zitierten Reinhardt-Kritik, wo es
bloß
heißt
hieß
: „Liegt
nicht in alledem
eine Lust am Zurückschrauben?“ ein schlagender Beweis
dafür sein, wie zahm
Herr Reinhardt selbst angegangen wurde?
Bei Karlheinz Martin mußte Herr
Kerr auch
nicht dazusetzen: „Man hielte sich für einen Schubiack, wenn
man das nicht offen
sagte“.
Der Schriftsatz schließt: „Der Verdächtigungsversuch des
Klägers
(der Anwurf eines
gewissermaßen auf Befehl erfolgten Stellungswechsels
in der Kritik Alfred
Kerrs – –) wird schon durch solche Wendungen
wider
legt und gekennzeichnet.“ Er wird in Wahrheit schon durch
solche Wen
dungen,
durch den sinnfälligen Kontrast in der Behandlung der verschie
denen Regisseure, bewiesen. Und er wird – vorbehaltlich der Möglichkeit,
noch freundlichere Kritiken
des Herrn Kerr
über Reinhardt zu finden,
und
die
mit der
Gewißheit,
daß es
keine
[¿¿¿]
unfreundlicheren
gibt – von den Zeugen erbracht werden; nicht
zuletzt von durch und durch
orientierten Vertretern einer Theatersphäre,
die das Schauspiel der
Pazifizierung des Herrn Kerr auch im engern Fach
gebiet erlebt haben bis
zum
dem Festessen, das die ehemaligen Todfeinde im
Hause des Herrn Angeklagten
zusammenführte, und bis zu der denkwürdigen
Schaustellung, die den
Theaterkritiker Kerr neben dem Theaterdirektor
Reinhardt zu dessen 50. Geburtstag auf der Bühne des Deutschen Theaters
den entzückten Besuchern
darbot.
Nachtrag
Auch in späteren Kritiken –
über solche Aufführungen
des
Grossen Schauspielhauses, die nicht von
Reinhardt
selbst inszeniert waren –
ist diese seine eigenste Grün
dung, das Zirkustheater mit
dem „Raum“-Prinzip, von
Alfred Kerr in
schärfster Art abgelehnt, ja lächerlich
gemacht werden.
So heisst es in einer Besprechung der (von KarlheinzMartin geleiteten) Aufführung des „Florian Geyer“ trotz
manchem Lob:
„Das
Unterbrechen der Täuschung nahm seinen üblen
Fortgang wie stets
in so einem Hause … Ein kindisches
Zurückschrauben. Ein
lächerliches Aus-der-Stimmung-reis
sen. Alles was vom
Kunstgefühl adliger Nerven seit et
lichen hundert
Jahren ermöglicht ist, wird zu einem frei
willigen
Sichdummstellen zurückgeführt.“
Der Verdächtigungsversuch
des Klägers
(der Anwurf
eines
geiwssermassen auf Befehl erfolgten Stellungswech
sels in der Kritik Alfred Kerrs:
die Behauptung, eine
schmähliche Bedingung beim Eintritt in das B.T. vor ei
nem Jahrzehnt angenommen zu
haben) wird schon durch sol
che Wendungen widerlegt und
gekennzeichnet.