Berliner Tageblatt, 6.1.1921Prager PresseFlorian Geyer. Die Tragödie des Bauernkrieges


Der Privatkläger gibt nichts zu, was er „bisher stets bestritten
hat“. Das Abkommen zwischen Kerr und dem Angeklagten „rügt“ er aller
dings. Aber er hat mit Recht bestritten, daß er es in seiner Rede be
hauptet h a ä tte. Er hat damals nur das Schweigen des „Berliner Tageblattes“
auf den schwerwiegenden Vorwurf in der „Prager Presse“ gerügt.


Zu diesem Abkommen selbst sagt der Schriftsatz, daß wenn es tat
sächlich geschlossen wäre, die vom Angeklagten vorgelegten Kritiken
„eine Vertragsverletzung bedeuten würden“. Aber selbst wenn ein schrift
licher Vertrag, der „eine Bindung des Herrn Kerr in Beziehung auf
Reinhardt“ vorschreibt, bestünde – was niemand zu behaupten töricht ge
nug war, da solche Vereinbarungen oder Verständigungen ganz anders er
folgen –, so würden die vorgelegten Kritiken bei weitem keine Vertrags
verletzung bedeuten. (Auch dann nicht, wenn der Vertrag kein unsittli
cher Vertrag wäre.) Denn in der Form, in der es Herr Kerr getan hat,
konnte er ohne die Gefahr des Vertragsbruchs getrost wider den Stachel
löken. Die Art nun, wie Herr Kerr scheinbar vertragsuntreu wurde, ist
ein nicht hoch genug einzuschätzender Beweis dafür, daß er sich im Banne einer
Bindung gefühlt hat.


Der Angeklagte hatte es gemäß dem Gerichtsbeschluß übernommen, die
nach dem Engagement des Herrn Kerr erschienenen Kritiken, von denen der
Ank K läger behauptet, daß sie sanftmütigen Charakters im Punkte Reinhardt seien, beizustellen. Er ist dieser Verpflichtung in geradezu mu
stergültiger Weise nachgekommen. In seinem Interesse war es gelegen,
darzutun, daß Herr Kerr auch nach dem Engagement, nach dem Abkommen,
Reinhardt angegriffen habe, und so muß man wohl annehmen, daß er die
schärfsten Angriffe gegen Reinhardt hervorgesucht hat. Das Ergebnis
dieser Suche ist erschütternd. Es ist nun weit mehr bewiesen, als daß
Herr Kerr ein gezähmtes Wesen zur Schau trug. Daß er nicht spornstreichs
zum Fanatiker für Herrn Reinhardt w u ü rde, war doch wohl zu erwarten und
kein Abkommen hätte ihn zu so etwas verpflichten können. Aber es war
wohl bemerklich viel erreicht, wenn aus dem ehemaligen prononcierten
Angreifer, dem Herr Reinhardt einmal sogar den Zutritt zu seinem m Par
kett verwehrt haben soll, ein so behutsamer Tadler, ein so zögernder
Ironiker wurde, dem natür welchem frei lich kein Chefredakteur verwehren kann, daß er
bei seiner (in diesem Fall sogar richtigen) Ansicht und Kunstanschauung
verbleib t e – über das Treppenunwesen u.dgl. –, wenn er si ch e nu n r endlich in
gemäßigten und gebändigten Formen äußert. Aber Herr Kerr hat ein Übri
ges getan, nämlich den Beweis dafür hergestellt, daß von ihm eine gründliche
Remedur seiner kritischen Tonart verlangt und erwartet wurde. Er lökt
sichtlich wider den Stachel, und nicht diese „Vertragsverletzung“ ist
ein Beweis dagegen, daß ein Vertrag nicht besteh t e , sondern die Offen-
heit, mit der er sich gegen eine Bindung wehrt, mit der er förmlich davon spricht
daß man sie in weitergehendem Maß ihm nicht auferlegen könne, ist ein
Beweis für die Bindung.


Die Kritik enthält rot angestrichene Stellen, die besonders augen
fällig dartun sollen, wie resolut Herr Kerr nach wie vor im kritischen
Angriff war. Worin besteht dieser? „Vertraulichkeit des Zuschauers war
nie erwünscht. Der nächste Schritt wäre: ‚Macbeth’n, Sie trippen!‘“
Diese jokose Berufung auf die alte Theateranekdote, wonach ein Zuschau
er die Lady Macbeth darauf aufmerksam gemacht hat, daß die Kerze tröpf
le, dürfte Herrn Reinhardt kaum aufgeregt haben , d . D aß „Vertraulichkeit
des Zuschauers nie erwünscht“ war, diese Feststellung ist wäre wirklich kein
Vertragsbruch, sie dürfte weder seinem direktorialen Selbstbewußtsein
noch seiner Kasse nahegetreten sein, und das Hervorheben der Stelle
durch Rotstrich kann einen schwerlich davon überzeugen, daß Herr Kerr
seine schrankenlose Unabhängigkeit bewahrt hatte. Wie es in Wahrheit mit
dieser steht, zeigt aber die nächste rot angestrichene Stelle, die mit
erstaunlicher Offenheit zu erkennen gibt, wie der Kritiker fürchten
mußte, sich selbst durch so schüchternen Tadel die Unzufriedenheit des
Chefredakteurs zu erwerben , d . D ie Stelle, die der Angeklagte vorzuweisen
und extra rot anzustreichen für taktisch richtig befunden hat, lautet:
„Liegt nicht in alledem eine Lust am Zurückschrauben? Man hielte sich
für einen Schubiack, wenn man das nicht offen sagte – unbekümmert um die
Bücher.“ Welche Bücher da der Herr Kerr gemeint hat, ist nicht ganz klar,
aber sicher ist, daß er hier vor allem ausdrücken wollte, er sei auch
um etwas anderes unbekümmert, das heißt: doch so weit bekümmert, daß er
sich eben gedrungen fühlt, es zu sagen. „Man hielte sich für einen Schu
biack“. Ja, warum denn das? Wieso steht denn plötzlich das Schubiacktum
eines Kritikers zur Diskussion, von dem man doch erwartet, daß er fort
fahren wird, seine kritische Überzeugung auszusprechen und Reinhardt wie
gewohnt anzugreifen? Die Leserschaft hat ihm dieses Problem keineswegs
gestellt auferlegt . Aber ist es nicht, als ob er sich hier mit einem andern über
ihm waltenden Einfluß auseinandersetzte? Ist es nicht psychologisch un
zweifelhaft verkennbar , daß hier förmlich die Gegenwehr gegen den Versuch erfolgt
ist, in die Domäne seiner Überzeugung einzugreifen? Will er nicht klar
ausdrücken: Also schön, wenn wir uns schon im Punkte Reinhardt ver
ständigt haben, meine Ansicht lasse ich mir nicht nehmen, so weit kann
die Bindung nicht gehen, ich wäre sonst ein Schubiack!? Aber der Chefre
dakteur wollte vielleicht nicht einmal die „Überzeugung“ kassieren, und
der Kritiker fürchtete es mit Unrecht. Ist es nicht, als ob er hier die
Grenze der redaktionellen Abhängigkeit ertasten wollte? Reinhardt nicht
mehr persönlich attackieren – meinetwegen, aber das Große Schauspielhaus
nicht mehr zu groß finden, das lasse ich mir nicht vorschreiben, da
wäre ich ja ein Schubiack! Und selbst die Herren Wolff und Reinhardt haben
ihm vielleicht darin beigepflichtet und ihn beruhigt: „Machen Sie sich
keine Sorgen, lieber Kerr, die Dimension dürfen Sie weiter angreifen!“
Daß Herr Kerr mehr als solches getan hat, dürfte aus der vorgelegten
Kritik kaum zu beweisen sein.


Diese Kritik mit dieser Stelle aufzufinden (und rot anzustreichen), hätte der Angeklagte
dem Ank K Kläger überlassen müssen. Sie war schon vom Herrn Kerr aus selbst
mörderisch. Sie ist es nunmehr von Herrn Wolff aus. Sie ist ein geradezu
umfassender Beweis für die – natürlich nicht vertragsmäßig festgelegte –
Verständigung, die zwischen den Herren Theodor Wolff und Alfred Kerr „in
Beziehung auf Reinhardt“ erfolgt war. Ja, jener offenbare merkliche Widerspruch
gegen die Verständigung ist ein Beweis für sie. Ein Ausdruck der Unzu
friedenheit mit dem Vertrag, keineswegs ein Bruch desselben, den Herr
Theodor Wolff sich wohl gehütet hätte zivilrechtlich zu belangen, selbst
wenn das nach der Beschaffenheit des „Vertrags“ möglich gewesen wäre.
Herr Kerr wußte genau, wie weit er gehen konnte, und seine Äußerung
klingt geradezu wie der Abschluß von redaktionellen Debatten darüber,
daß er sich bei aller „Einlenkung“ in die Ansicht selbst nicht
dreinreden lasse?


Weitere Unterstreichungen beweisen dann nur noch, in wie zufrieden
stellender Weise die Einlenkung vollzogen war. Wenn Herr Kerr gegen
Reinhardt keine stärkere Vehemenz aufbrachte als Sätze wie: „Aus der
Seelenszene wird allerdings oft eine Gliederszene.“ oder „Eine kleine
Perversion“, so hatte der Chefredakteur zugunsten des ihm befreundeten
Theaterdirektors wohl allerhand erreicht. Daß Herr Kerr sein dramatur
gisches Glaubensb B bekenntnis ändern würde müsse , war beim Engagement gewiß nicht vorge
sehen, sicherlich nicht einmal, daß er seiner prinzipiellen Aversion
gegen das besondere Zirkustheater zu entsagen habe. Wie er aber sogar die schüch
ternen Einwände, die er dagegen verbringt, schon als Belastung des Ein
verständnisses, auf Grund dessen das Engagement vollzogen durchgeführt wurde, empfindet,
zeigt wieder die angestrichene Stelle: „Muß ein Kritiker das nicht sa
gen? …“ Ja warum denn nicht? Ein Kritiker muß sagen, was er meint!
Aber wenn er – vielleicht mit Unrecht – ein schlechtes Gewissen gegen
über dem Chefredakteur hat, der mit dem Getadelten verbunden liiert ist, so
entschuldigt er sich dafür, so sagt er es zwar, aber er setzt auch hinzu
„Muß ein Kritiker das nicht sagen?“ Solche Wendungen hat Herr Kerr in
der kritischen Tätigkeit, die er gegen Reinhardt vor dem Engagement beim
Berliner Tageblatt‘ entfaltet hat, niemals gebraucht.


Aber wahrhaft erschütternd ist die Deduktion des Angeklagten in dem
„Nachtrag“. Hier wird einem Beweis, der sein eigener Gegenbeweis ist
und nicht der gegen die Vorbringung des Ank K Klägers, sichtlich mit dem
Spiel Trick des Tonfalls nachgeholfen. Es heißt da: „Auch in späteren Kriti
ken – über solche Aufführungen des Großen Schauspielhauses, die nicht
von Reinhardt selbst inszeniert waren – ist diese seine eigenste Grün
dung … in schärfster Art abgelehnt, ja lächerlich gemacht worden.“


Wenn lächerlich gemacht, das heißt, wenn Reinhardt dabei lächerlich
gemacht wurde so möge es vorgewiesen werden! Der Angeklagte hat es sich
wohl nicht entgehen lassen, schon diesmal die schärfste Lächerlichma
chung Reinhardts beizubringen. Aber in dem eingeschalteten Satz wird,
als ob es der Beweisführung zugutekäme, gesagt, diese Aufführungen
seien „nicht von Reinhardt selbst inszeniert“ gewesen. Der Ank K Kläger
zweifelt nun tatsächlich nicht, daß diese Inszenierungen späterhin in
höherem Maße lächerlich gemacht wurden als die des Herrn Reinhardt
selbst, der weit glimpflicher davon kam und vielleicht gar nichts dage
gen hatte, daß eine Inszenierung des Herrn Karlheinz Martin lächerlich
gemacht wurde, selbst wenn sie auf der Bühne stattfand, die Reinhardts
„eigenste Gründung“ war. Tatsächlich wird das Zitat über eine solche
Inszenierung beigebracht: „Ein kindisches Zurückschrauben. Ein lächer
liches Aus-der-Stimmung-reißen.“ Sollte nicht eben der Kontrast zu der
zitierten Reinhardt-Kritik, wo es bloß heißt hieß : „Liegt nicht in alledem
eine Lust am Zurückschrauben?“ ein schlagender Beweis dafür sein, wie zahm
Herr Reinhardt selbst angegangen wurde? Bei Karlheinz Martin mußte Herr
Kerr auch nicht dazusetzen: „Man hielte sich für einen Schubiack, wenn
man das nicht offen sagte“.


Der Schriftsatz schließt: „Der Verdächtigungsversuch des Klägers
(der Anwurf eines gewissermaßen auf Befehl erfolgten Stellungswechsels
in der Kritik Alfred Kerrs – –) wird schon durch solche Wendungen wider
legt und gekennzeichnet.“ Er wird in Wahrheit schon durch solche Wen
dungen, durch den sinnfälligen Kontrast in der Behandlung der verschie
denen Regisseure, bewiesen. Und er wird – vorbehaltlich der Möglichkeit,
noch freundlichere Kritiken des Herrn Kerr über Reinhardt zu finden, und die mit der Gewißheit,
daß es keine [¿¿¿] unfreundlicheren gibt – von den Zeugen erbracht werden; nicht
zuletzt von durch und durch orientierten Vertretern einer Theatersphäre,
die das Schauspiel der Pazifizierung des Herrn Kerr auch im engern Fach
gebiet erlebt haben bis zum dem Festessen, das die ehemaligen Todfeinde im
Hause des Herrn Angeklagten zusammenführte, und bis zu der denkwürdigen
Schaustellung, die den Theaterkritiker Kerr neben dem Theaterdirektor
Reinhardt zu dessen 50. Geburtstag auf der Bühne des Deutschen Theaters
den entzückten Besuchern darbot.


Nachtrag


Auch in späteren Kritiken – über solche Aufführungen
des Grossen Schauspielhauses, die nicht von Reinhardt
selbst inszeniert waren – ist diese seine eigenste Grün
dung, das Zirkustheater mit dem „Raum“-Prinzip, von
Alfred Kerr in schärfster Art abgelehnt, ja lächerlich
gemacht werden.


So heisst es in einer Besprechung der (von KarlheinzMartin geleiteten) Aufführung des „Florian Geyer“ trotz
manchem Lob:


„Das Unterbrechen der Täuschung nahm seinen üblen
Fortgang wie stets in so einem Hause … Ein kindisches
Zurückschrauben. Ein lächerliches Aus-der-Stimmung-reis
sen. Alles was vom Kunstgefühl adliger Nerven seit et
lichen hundert Jahren ermöglicht ist, wird zu einem frei
willigen Sichdummstellen zurückgeführt.“


(Berl. Tageblatt 6.1.1921).


Der Verdächtigungsversuch des Klägers (der Anwurf
eines geiwssermassen auf Befehl erfolgten Stellungswech
sels in der Kritik Alfred Kerrs: die Behauptung, eine
schmähliche Bedingung beim Eintritt in das B.T. vor ei
nem Jahrzehnt angenommen zu haben) wird schon durch sol
che Wendungen widerlegt und gekennzeichnet.