Hamburger Nachrichten, 8.5.1929Karl Kraus: „Die Unüberwindlichen“Die Unüberwindlichen. Nachkriegsdrama in vier Akten


Abschrift


Amtsgericht in Hamburg.
15.P.No.69/29.


Urteil.


In der Privatklagesache des Schriftstellers Karl Kraus
Wien III., Hintere Zollamtsstr. 3,


Vertreter: Rechtsanwalt Dr. Lion, Hamburg.


Privatklägers,


gegen den Schriftleiter Otto Schabbel,
Hamburg, Speersort 11 (Hamburger Nachrichten)
Angeklagten,


hat das Amtsgericht in Hamburg, Abteilung 15 für Strafsachen
in der Sitzung vom 14. Dezember 1929, an welcher teilge
nommen haben:


1. Richter Buhl, als Vorsitzender
für Recht erkannt:


Der Angeklagte wird freigesprochen.


Der Privatkläger trägt die Kosten des Ver
fahrens.


Gründe:


Gegen den Angeklagten ist das Hauptverfahren
eröffnet worden, weil er hinreichend verdächtig ist:


zu Hamburg in Beziehung auf den Privatkläger eine
Tatsache behauptet und verbreitet zu haben, welche
geeignet ist, den Privatkläger verächtlich zu
machen und in der öffentlichen Meinung herabzuwür-
digen und zwar öffentlich und durch Verbreitung von Schrif
ten, nämlich durch den in den „Hamburger Nachrichten
Ausgabe A (Grosse Ausgabe) vom 8. Mai 1889 erschiene
nen Artikel: Karl Kraus: „Die Unüberwindlichen“;


Vergehen strafbar nach § 185 186, 200 StGB.


Der Angeklagte hat nicht bestritten, dass er als
verantwortlicher Redakteur für den am 8. Mai 1929 erschiene
nen und von Dr. Albrecht unterzeichneten Artikel in Frage
komme. Der Angeklagte hat weiter zugegeben, dass der in
diesem Artikel gegen den Privatkläger enthaltene Plagiats
vorwurf unrichtig ist und hat eine Ausgabe vom 7. Juni 1929
überreicht, in der die Berichtigung erfolgt ist.


Was zunächst die pressrechtliche Verantwort
lichkeit des Angeklagten anlangt, so ist der Angeklagte auf
Grund § 20 des Reichsgesetzes vom 7. Mai 1874 als Redakteur
verantwortlich zu machen. Nach dem von dem Angeklagten
selbst vorgetragenen Sachverhalt hat das Gericht auch keine
Veranlassung nehmen können, einen der im § 20 Abs. 2 desPressgesetzes vorgesehenen besonderen Umstände annehmen zu
können, die die Annahme seiner Täterschaft ausschliessen
würden. Das Gesetz stellt zunächst eine Vermutung auf, die
solange gegen den Redakteur spricht, bis von ihm selbst
diese Vermutung entkräftet worden ist. Der Angeklagte hat
ernstlich nicht behaupten wollen, dass die Veröffentlichung
dieses Artikels ohne sein Wissen erfolgt ist; er will ledig
lich nicht die Zeit gehabt haben, sich den Artikel durchzu-
lesen; er kenne den Unterzeichner seit Jahren und habe daher
unbedenklich den Artikel so veröffentlichen lassen. Hierfür
ist keinerlei Beweis angetreten, sodass durch die Behauptung
allein die rechtliche Vermutung nicht ausgeschlossen wird, die
bis zu ihrer Widerlegung auch bei einem non liquet wirkt;
das hat das Reichsgericht in der Entscheidung der vereinigtenStrafsenate – Band 22 Seite 65 – eindeutig zum Ausdruck ge
bracht.


Eine andere Frage ist jedoch die, ob der Angeklagte,
der an sich somit nach § 186 St.GB. zu bestrafen wäre, den
Schutz des § 193 StGB. für sich in Anspruch nehmen kann. Die
rechtliche Möglichkeit ist durchaus gegeben, wie auch das
Reichsgericht in der oben cit. Entscheidung ausdrücklich
anerkannt hat. Der Artikel enthält eine Kritik des Stückes
Die Unüberwindlichen“, während der dem Angeklagten zur
Last gelegte Teil dieses Artikels eine Kritik des Verfassers
dieses Stückes, nämlich des Privatklägers, enthält. Das Gericht ist nun aber der Meinung, dass ein Unterschied zwischen
der Kritik der Leistungen und der Person des Leistenden nicht
gemacht werden kann und schliesst sich hierbei durchaus der
herrschenden Meinung an (vgl. Ebermayer § 193, 5 und die
dort cit. Entscheidungen). Dass dieser Plagiatsvorwurf
wider besseres Wissen aufgestellt ist, hat der Privatkläger
selbst nicht behauptet und das Gericht hält auch nach Sach
lage die Voraussetzungen des § 187 StGB. für nicht gegeben.
§ 193 StGB. lässt somit grundsätzlich tadelnde Urteile über
wissenschaftliche und künstlerische Leistungen straflos, wenn
sich nicht eben aus der Form oder den Umständen das Vorhanden
sein einer Formalbeleidigung ergibt. Ist die Kritik unrich
tig, so hat der Kritisierte das Recht der pressrechtlichen
Berichtigung, ein strafrechtlicher Schutz ist ihm nur dann
gewährt, wenn der Boden sachlicher Kritik verlassen und die
Kritik zu Formalbeleidigungen übergeht; das aber ist hier
nicht geschehen. Die Voraussetzungen des § 185 StGB. liegen
nicht vor; die Strafbarkeit aus § 186 StGB. wird aber durch
§ 193 StGB. ausgeschaltet. Der Angeklagte war deshalb frei
zusprechen und dem Privatkläger die Kosten des Verfahrens
gemäss § 471 StPO. aufzuerlegen.


gez. Buhl.


Für richtige Ausfertigung:


L.S. gez. Unterschrift, Justizinspektor
als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle.