Karl Kraus: „Die Unüberwindlichen“


Sehr geehrter Herr Kollege!


Ich beziehe mich auf meine Zuschrift vom 24. Dezember. In der Zivilsache verlief der gestrige Termin so, dass das
Gericht in 3/4stündiger, gründlicher Verhandlung den Streitstoff
nach allen Richtungen mit den Parteivertretern erörterte, wobei
der Vorsitzende eine erstaunliche Kenntnis der zivilrechtlichen
und strafrechtlichen Fragen zeigte.


Der Beklagte Schabbel hat einen Wechsel in seiner
Prozessstellung vorgenommen, indem er neuerdings behauptet, den
Artikel in Druck gegeben zu haben, ohne dass er ihn vorher ge
lesen hätte. Ich habe darauf hingewiesen, dass er dies bisher
nicht einmal im Strafverfahren klar behauptet habe und dass aus
Absatz 4 seines Briefs an mich vom 26.7.1929 und Absatz 5
seines Briefs an mich vom 2.9.1929 das Gegenteil herauszulesen
sei. Beide Briefe habe ich Ihnen ja in Abschrift übersandt.
Der Gegenanwalt erklärte aber, Herr Schabbel habe den Bericht
von Dr. Albrecht aus Faulheit nicht gelesen und er habe dies
nur seinem Chef, Herrn Dr. Hartmeyer gegenüber nicht zugeben
wollen und sich daher in seinen Briefen an mich zweideutig aus
gedrückt. Es fragt sich hier also, ob Herr Schabbel faul ist
oder seine Ausrede.


Das Gericht erklärte, im Zivilverfahren werde es
Herrn Schabbel aller Voraussicht nach auch dann verurteilen,
wenn er den Artikel ungelesen in Druck gegeben haben sollte;
vorsichtshalber habe ich Herrn Schabbel auch den Eid über
seine Kenntnis zugeschoben. Dagegen will das Gericht im Zivil
verfahren gegen den zweiten Beklagten Dr. Hartmeyer die Klage
abweisen, weil es für dessen Mitverschulden keinen ausreichen
den Anhalt gegeben sieht. Ich hatte, wie es in Pressesachen sehr
häufig geschieht, Dr. Hartmeyer als Zeitungsinhaber mitverklagt,
weil, wenn man nur den verantwortlichen Schriftleiter anfasst,
die Gefahr besteht, dass der Zeitungsverleger diesen absetzt
und damit Schwierigkeiten hervorruft. Es liegt nun in unserm
Fall allem Anschein nach so, dass Dr. Hartmeyer von dem ganzen
Fall bis zur Klagerhebung überhaupt nichts gewusst hat. Wenn
nun Schabbel verurteilt und gegen Dr. Hartmeyer die Klage abge
wiesen wird, so ist die Kostenfolge die, dass die Gegenseite
mit ihren halben Kosten aufrechnen kann, dass also unsere
Kosten von der Gegenseite nur zur Hälfte zu erstatten sind.
Für Schabbel besteht die Möglichkeit, im Fall seiner Verurtei
lung Berufung ans Oberlandesgericht einzulegen.


Der Vorsitzende erklärte das freisprechende Straf
urteil für verkehrt. Hier liegt es nun folgendermassen. Nach
§ 20 Abs. 2 PressG. ist der verantwortliche Redakteur einer
Zeitung als Täter zu bestrafen, wenn nicht durch besondere Um-
stände die Annahme seiner Täterschaft ausgeschlossen wird.
Falls Schabbel im Berufungs-Strafverfahren geltend macht, er
habe den Artikel vor dem Druck nicht gelesen, so genügt das
allein nicht zu einer Entlastung. Falls dagegen das Zivilgericht Herrn Schabbel den von mir zugeschobenen Eid über seine
Kenntnis auferlegt und Herr Schabbel schwört diesen Eid, so
wird vermutlich das Strafgericht seine Nichtkenntnis als erwie
sen ansehen. Kann er dagegen im Zivilverfahren den Eid nicht
leisten, so fällt er auch im Strafverfahren in zweiter
Instanz hinein.


Das Zivilgericht empfahl den Parteien dringend,
sich in der Weise zu vergleichen, dass der Verfasser des Artikels Dr. Albrecht in der Zeitung seine unrichtige Behauptung
in einer unserm Klagantrag entsprechenden Fassung zurücknimmt;
das Zivil- und Strafverfahren sollen damit erledigt sein, die
Gerichtskosten geteilt und jeder Anwalt von seiner Partei be
zahlt werden. Das Gericht bemerkte zur Begründung seines Vor
schlages, bei der Zeitung habe man die Unrichtigkeit der
Plagiatsbehauptung nicht gekannt, den Interessen von HerrnKraus sei am besten durch eine Erklärung des Artikelschreibers
selbst gedient; die Zeitung habe in den Vergleichsverhandlungen
ihre Bereitschaft zu einer Ehrenerklärung gezeigt, und wenn
dieser Vergleich an der Kostenfrage gescheitert sei, so sei zu
berücksichtigen, dass man von unserer Seite durch das Verlangen
einer Busse der Gegenseite etwas viel zugemutet habe.


Das Gericht hat neuen Termin auf den 29. ds.Mts. an
gesetzt. Bis dahin sollen sich die Parteien erklären, ob sie
den Vergleich annehmen wollen. Die Gegenseite, die im Termin
nicht persönlich anwesend war, dürfte den Vergleich gutheissen.


Ich bitte um Ihre Entscheidung. Die Rechtslage, wie
sie sich nach dem jetzigen Standpunkt des Herrn Schabbel dar
stellt und wie das Zivilgericht sie beurteilt, habe ich dar
gelegt. Rein vom Ehren-Standpunkt aus hätte ich gegen die
Annahme keinerlei Bedenken, nachdem gestern der Vorsitzende
das freisprechende Strafurteil für unrichtig, das Verhalten
des Herrn Schabbel mindestens für fahrlässig erklärt und nach
dem er ausgesprochen hat, dass er eine Erklärung des
Dr. Albrecht als die beste Wiedergutmachung für Herrn Kraus
ansehe. Ich würde, falls Herr Kraus zur Annahme des Vergleichs
geneigt sein sollte, diese unsern Entschluss beeinflussenden
Punkte in einem Brief an den Gegenanwalt nochmals hervorheben.


Ziffernmässig würde es sich so stellen, dass uns die
halben Gerichtskosten mit rund RM 33.– von der Gegenseite
zurückvergütet werden würden, während meine gesamten Gebühren
sich auf RM 210.– belaufen würden.


Ich erbitte Ihren Bescheid sobald wie möglich, da viel
leicht Rückfragen erforderlich sind und ich gegebenenfalls mit
dem Gegenanwalt noch die Fassung des Vergleichs festlegen
m öch üß te.


Mit kolleg. Hochachtung
Dr. Lion


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