Anbruch, Jg. 11, Nr. 3Arbeiter-Zeitung, 12.11.1929BlaubartDie neue StadtVorgelesene Operetten. Zum Offenbach-Zyklus von Karl KrausArbeiter-Zeitung, 23.12.1928Das Jubiläums-Arbeiter-Symphoniekonzert.Wiener Neueste NachrichtenArbeiter-ZeitungBerliner Börsen-Zeitung, 15.11.1929 (inkl. Unterhaltungs-Beilage)Wörterbuch des Wiener DialektesArbeiter-Zeitung, 25.12.1928Schönberg-Uraufführungen in Wien.Die FackelMusikblätter des AnbruchTraumstück


24. Juni 1930.
Dr.S/Fa.


G.Z. 4 U 1095/29


An das
Strafbezirksgericht IWien.


Privatankläger: Dr. Paul Amadeus Pisk, Musiker und
Musikschriftsteller, Wien IV., Schleifmühlgasse Nr. 19,


durch:
Dr. Otto Pisk,
Rechtsanwalt


als Verteidiger des
Beschuldigten: Karl Kraus, Schriftsteller in WienIII., Hintere Zollamtsstrasse Nr. 3,


wegen Ehrenbeleidigung.


1 fach
1 Vollmacht
7 Beilagen.


Schriftsatz zur Vorbereitung der Hauptverhandlung.


Den Wortlaut der vom Privatankläger unter
Anklage gestellten Beleidigungen durch Zeugen festzustellen, ist
überflüssig. Die Zusatzstrophe zum Höflings-Lied und die Vorbe
merkung dazu, die Herr Karl Kraus am 7. Juni 1929 vortrug, sind
auf Seite 83 der August-Nummer 1929 der Fackel, die Ausführungen,
die er am 10. Juni 1929 machte, in der gleichen Nummer Seite
175 bis 84 (811 bis 819 des 31. Jahrganges der Fackel) abgedruckt.


Da Herr Karl Kraus niemals frei spricht son
dern immer vorliest, ist der Abdruck die einzige verlässliche
Wiedergabe dessen, was bei dem Vortrag vorgefallen ist. Ueber die
wörtliche Kongruenz des tatsächlich Gesprochenen und des später
Gedruckten gibt es keinen Zweifel. Jeder Zeuge, der etwas anderes
bekundet als was im Druck als gesprochener Text wiedergegeben ist,
würde die Unwahrheit sagen, und hunderte Gegenzeugen würden ihm
widersprechen. Diese können geführt werden und überdies die
Manuskripte, aus denen gesprochen wurde und die mit dem Druck über
einstimmen, vorgewiesen werden, wenn der leiseste Zweifel möglich
wäre, ob der mit dem Datum des Vortrags versehene Druck mit dem
Wortlaut der Rede übereinstimmt. Es ergibt sich daraus, dass der
Ausdruck Schlieferl am 7. Juni 1929 vom Vortragenden nicht „wie
derholt“ wurde, sondern dass er nur einmal gebraucht wurde, dass
nicht davon die Rede war, ein Schlieferl sei im Saale anwesend,
sondern dass von einem Schlieferl gesprochen wurde, das sich in
den Vortragssaal „verirrt hat und an einer Zusatzstrophe Aergernis
nahm.“ Aus dieser Zeitform geht schlüssig hervor, dass die Anklage auf der willkürlichen Konstruktion eines nicht vorhandenen
Sachverhaltes beruht: auf der falschen Beziehung einer Rede durch
das Missverstehen der in ihr enthaltenen Zeitangabe. Doch schon
aus der Tatsache allein, dass der Vortragende Vorbemerkung und
Zusatzstrophe von einem Zettel ablas, geht schlüssig hervor, dass
sich die Satire gegen eine Person richten musste, die sich in
eine frühere Vorlesung verirrt und an einer Zusatzstrophe Aerger
nis genommen hatte. Dass der Privatankläger sich auch in die
Blaubart-Vorlesung verirrte und [Steno] an einer Zusatzstrophe Aergernis
genommen hatte, ist ein Sachverhalt, der dem Wissen des Vortragenden nicht erschlossen war. Ausser dem Privatankläger selbst
hat niemand gewusst, dass er sich auch früher in diesen Saal ver
irrt und an einer Zusatzstrophe Aergernis genommen hatte. Dass
der Privatankläger dies getan hat, dass er weiters gesagt hat,
Herr Karl Kraus sei kein Sänger, wurde diesem von befreundeter
Seite zur Kenntnis gebracht, daraus konnte er schliessen und
schloss er, dass dies die Taktik sein werde, mit der sich die Arbeiter-Zeitung aus ihrer Blamage mit Offenbach herauszudrehen ver
suchen werde. Ob dies in Form der Kritik eines der Fachreferenten
oder in anderer Form etwa gelegentlich einer späteren Polemik ge
schehen werde, ging daraus selbstverständlich nicht hervor. Die An
wesenheit des Fachreferenten am 7. Juni, also an dem Abend, an dem
der Vortragende die künftige Haltung der Arbeiter-Zeitung prophe
zeite und von einem Schlieferl sprach, war dem Vortragenden absolut
unbekannt, und erfuhr sie erst aus der Behauptung des Referats. Kei
nesfalls wäre die Anwesenheit des Privatanklägers oder seine An
stossnahme an einer Zusatzstrophe „vielleicht aus einer abwehren
den Bewegung, die er möglicherweise gemacht hat, ohne sich dessen
bewusst zu sein“, für Herrn Karl Kraus bemerkbar gewesen, da die
Vorträge bei total verdunkeltem Saal stattfinden, und dem Vortragenden das Publikum unkenntlich bleibt. Aber selbst bei voll
beleuchtetem Saal, und auch wenn ihm der Vortrag die Möglichkeit
zu Beobachtungen im Saalraum liesse, hätte der Vortragende die
ihm völlig entrückte Physiognomie des Herrn Pisk und seine „mög
licherweise“ gemachte Abwehrbewegung nicht wahrgenommen. Die Be
hauptung, dass der Beschuldigte den Kläger „seit mehreren Jahren,
besonders seit dem Jahre 1924 kennt“ ist nur insofern richtig,
als er ihn eben damals flüchtig gesehen hat, als er an der Musik
zum „Traumstück“ mitwirkte. (Darüber berichtet wurde in der
Fackel mit keinem Worte.) Er würde ihn bestimmt auf der Strasse
nicht widererkennen. Die Vorstellung, dass er ihn nach fünf Jahren
im stockdunklen Saal agnoszieren musste, zeigt von nicht geringem
Selbstbewusstsein, wie nicht minder die Idee, dass Herr Karl Kraus,
wenn er wüsste, dass Herr Pisk vor ihm sitzt, ihn apostrophieren
würde. Es heisst, das Wesen der Podiumswirkung geistig und nerven
mässig verkennen, wenn man dergleichen auch nur für möglich hielte.
Der Privatankläger kann darüber vollkommen beruhigt sein, dass
weder der ahnungslose Vortragende noch irgendein Hörer – es wäre
denn ein persönlich bekannter – eine Anwesenheit im Saale bemerkt
und konstatiert hat. Kein Zuhörer würde den Bewegungen eines ande
ren Hörers – und wäre es selbst der Referent der Arbeiter-Zeitung
während des Vortrags seine Aufmerksamkeit schenken. Aber sogar
wenn Herr Karl Kraus gewusst hätte, dass der Privatankläger im Saal
anwesend war, und auch wenn ein Grossteil des Publikums ihn erkannt
hätte – was zu vermuten ja absurd ist –, war die Beziehung auf den
Privatankläger schon deshalb nicht herzustellen, weil damals Herrn
Karl Kraus lediglich bekannt war, dass „ein Schlieferl“ an einer
Zusatzstrophe Anstoss genommen habe, als welches ihm überhaupt
keine konkrete Person, sondern nur der Vertreter des journalisti
schen Typus gegenwärtig war. Nichts liegt dem Beschuldigten ferner
als die bekannte Methode einer Verteidigung, man habe den Kläger
„nicht gemeint“. Gemeint ist jeder, der zum Typus gehört und sich
als Vertreter vorstellig aber nicht jeder ist das polemische Objekt,
dessen Erkennbarkeit auch die juristische Voraussetzung herstellt.


Erkennbar und beleidigt war der Privatankläger
erst durch seine eigene Kritik vom 9. Juni 1929, zumal da er in
dieser Kritik, sowie vorausgesagt wurde, pünktlich bekannte, dass
Offenbach nicht „verklungen und vertan“ ist, dass an dem Uebel
stand lediglich schuld sei, dass Herr Karl Kraus nicht singen könne.
Für diese nachträgliche Erkennbarkeit ist aber Herr Karl Kraus
nicht verantwortlich. Es könnten auch vom Beschuldigten eine
grössere Anzahl von Zeugen geführt werden, die die Stelle des
Vortrages auf Herrn David Bach gemünzt haben, den Kunstchef
der Arbeiter-Zeitung, weil dieser ja sowohl in der Vorbemerkung
als auch in der Zusatzstrophe tatsächlich mit Namen genannt wird.
Aber auch diese Deutung wäre also gewesen, da es Herrn KarlKraus überhaupt nicht darauf ankam, gegen eine bestimmte unge
wichtige Person Satire zu üben, sondern lediglich gegen das Zen
tralorgan der Sozialdemokratie, dessen zufälliger Vertreter ja
vollständig gleichgiltig war, dessen „Schlieferl- und Tinterltum“
er aber nachweislich seit Jahren als jene wirkende Kraft kenn
zeichnet, deren Walten allen früheren enthusiastischen Bekenntnis
sen zu Karl Kraus Hohn spricht.


In gleicher Weise ist die Polemik vom 10.
Juni 1929 nicht den Privatankläger als Person sondern gegen
das Zentralorgan der Sozialdemokratie gerichtet und sie befasst
sich mit dem Privatankläger nur insoweit, als sein Aufsatz die
Grundlage dieser Polemik bildete. Die Behauptungen der Klage, Herr
Karl Kraus habe den Artikel zur Hand genommen und versucht, ihn
Satz für Satz zu zerpflücken, indem er jedesmal einleitend sagte:
„das Schlieferl schreibt“ oder „das Schlieferl schreibt weiter“,
sind zur Gänze unwahr. Bis auf den letzten Satz der Ausführungen
ist zwar vom „Schlieferl- und Tinterltum“, von „Schlieferl-
Praktiken“ gesprochen worden, niemals aber von einem Schlieferl.
Es ist überflüssig an jeder einzelnen Stelle zu sagen, dass die
Behauptungen der Klage unrichtig sind. Gleichwohl darf die Ver
zerrung eines geistigen und moralischen Sachverhalts in dem Satz:
„der Beschuldigte fühlt sich seit einiger Zeit dadurch zurückge-
setzt, dass seine Bedeutung in der Presse Wiens nicht nach Ge
bühr gewürdigt wird“ nicht ungewürdigt bleiben. Es ist eine
allgemein bekannte Tatsache, dass sich die bürgerliche Presse
Wiens für den dreissigjährigen Kampf der Fackel durch Totschwei
gen gerächt hat, neu, aber gewiss nicht unberechtigt ist der
Stolz, mit der sich die sozialdemokratische Presse ihr anschliesst,
seitdem die Fackel ihre Laster mit denen der bürgerlichen Presse
identifiziert. Immerhin ist das Zugeständnis beruhigend, dass die
se schon eher kulturgeschichtliche Wirksamkeit nicht in das
„Ressort“ des Privatanklägers fällt. Warum sollte man also gerade
diesem das Totschweigen nachtragen? Die Behauptungen, dass der
Beschuldigte gesagt habe, ein Schlieferl sei „hier im Saal anwesend;
mit ein paar Slezaks nehme er es noch auf; er wisse, er werde ver
urteilt werden; der Privatankläger sei ein kümmerlicher Schönberg
schüler“; und andere widersprechen dem gedruckten Wortlaut der
Reden. Unwahr ist, dass der Wortwitz „Korrepetite“ sich auf die
„bekannte Tätigkeit“ des Privatanklägers bezog; er bezog sich auf
die Anmassung, Herrn Karl Kraus Rythmus lehren zu wollen. Die
Tätigkeit des Privatanklägers als Korrepetitor war ihm so wenig
bekannt, wie er „wusste und sah, dass Herr Pisk am 7. Juni im Saal
anwesend war“. Dies als „zweifellos“ hinzustellen, ist einiger
massen übertrieben. Auch in dem letzten Satz der Ansprache vom
10. Juni wurde der Privatankläger nicht als „Schlieferl“ apo
strophiert, sondern gesagt, dass der Vortragende, „sollte der
Musikfachmann, der behauptet hat, dass ihm die Bezeichnung
‚Schlieferl‘ gelte, wieder anwesend sein, ihm noch bessere Nerven
wünsche als sich selbst, denn er beneide ihn nicht um die geradezu
elementare Wirkung die er auf sein Publikum als Schriftsteller
durch Polemik und Satire erziele.“ (Eine der Kritik des Privatanklägers entnommene Wendung.)


Da jedoch der Privatankläger die Exekutive
der an Herrn Karl Kraus geübten Schlieferl-Praktiken und des gegen
ihn wirkenden Schlieferl- und Tinterltums tatsächlich übernommen
hat, so könnte das Gericht vielleicht den Standpunkt einnehmen, dass
Herr Karl Kraus, um freigesprochen zu werden, einen Wahrheitsbeweis
führen müsse, und diesen Wahrheitsbeweis trete ich nunmehr als Ver
teidiger des Herrn Karl Kraus an.


Zuerst möge eine Begriffsfeststellung vorge
nommen werden. Nach Sanders bedeutet: schliefen = kriechen siehe
schlüpfen; schlüpfen = gleitend oder wie gleitend, schnell, behend,
unvermerkt und durch eine enge Oeffnung, einen eng umschlossenen
oder so gedachten Raum sich bewegen, gw. mit Absicht (vereinzelt
auch ohne Absicht), eig. und übertr. Davon der Schliefer, z.B.
Dachs-Schliefer. Schliffel = Schlingel. Nach Adelung bedeutet:
schliefen = sich schleifend oder kriechend in einem engen Raume be
wegen. kriechen. Z.B.: Durch einen Zaun schliefen. Vor Angst in ein
Mausloch schliefen wollen. Die Dachshunde schliefen in die Dachs
löcher. Das Intensivum ist schlüpfen, das eine engere Oeffnung,
mehr windende Bemühung und eine grössere Glätte oder Biegsamkeit
des Leibes voraussetzt: sich mit einem glatten oder biegsamen Körper
durch eine enge Oeffnung winden, da es denn auch oft in weiterer Be
deutung für schnell kriechen oder schnell schleichen überhaupt ge
braucht wird. Der Schliefer = Ein Ding, welches schliefet.


Nach Hügel, Wiener Dialektwörterbuch (Lexikon der Wiener Volkssprache, Idiotocon Viennense) Hartleben 1873, bedeutet: schliarf’n
= sich kriechend in einen engen Raum begeben; sich um die Gunst von
Jemand bewerben. Z.B. Der N. möchd’ unsern Herrn ordentli’ in
Hintern schliarf’n (d.h. sich bei ihm einschmeicheln). Und nach
Jakob, Wörterbuch des Wiener Dialektes, Gerlach und Wiedling 1929:
Schliaferl = widerlicher Schmeichler, Liebediener. Es ist also der
Beweis möglich, dass die sich den Anschein der Sachlichkeit gebende
Kritik des Privatanklägers nur zu Gefallen der redaktionellen und
parteimässigen Auftraggeber und im Anschluss an die zwischen Herrn
Karl Kraus und der Arbeiter-Zeitung bestehenden Polemik geschrieben
worden ist.


Zur Erläuterung muss etwas weiter ausgeholt
werden. Herr Karl Kraus, der dem Sozialismus gefühlsmäßig nahe
steht, hat bald nach der Zeit des Krieges, in der eine mannhaftere
Haltung der sozialdemokratischen Partei zu verzeichnen war, beob
achten und aussprechen müssen, dass sie genau so wie die bürgerli
chen Parteien Opportunitätspolitik betreibe und ihre Einstellung
zu Leben und Kunst ganz der Schablone des von ihr weiterhin, also
pharisäisch bekämpften Bürgertums angenommen habe. Da die Sozial
demokratie diese Unmutsäusserungen des Herrn Karl Kraus als partei
disziplinwidrig empfand, einer sachlichen Polemik aber nicht ge
wachsen war und zu einer Aenderung ihrer Haltung nicht die Kraft
aufbrachte, begnügte sie sich mit einer Aenderung ihrer Haltung
gegenüber dem bis dahin panegyrisch gefeierten Herrn Karl Kraus, den
aber kein Lob zur Unterdrückung der erkannten Wahrheit bestimmen
konnte. Zuerst durch Totschweigen, dann durch kleinliche Schikanen.
Herr Karl Kraus hat dies in seinem Vortrag vom 22. September 1928,
veröffentlicht in den Nummern 795 bis 799 des 30. Jahres der Fackel,
2Rechenschaftsbericht“ ausführlich dargestellt. Die Arbeiter-Zeitung
entgegnete in zwei umfänglichen Artikeln vom 23. und 25. Dezember1928 „Auseinandersetzung mit Karl Kraus“, die aber ein einziger
Gallimathias waren. Interessant für diesen Prozess ist lediglich
das, was dort über die Offenbach-Vorlesungen gesagt wird. Die
Arbeiter-Zeitung, der das Totschweigen der Offenbach-Erneuerung vor-
geworfen war, meinte, dass sie die Offenbach-Vorlesungen deshalb
nicht beachtet habe, weil sie „über die Möglichkeit und Notwendig
keit einer Wiederbelebung der Offenbach-Operetten anders denke“.
Sie sagte, dass sie der Meinung sei, „diese Kunst aus dem Geiste
des dritten Kaiserreiches sei verklungen und vertan.“ Die ArbeiterZeitung musste selbst bald zu der Erkenntnis kommen, dass diese
Einstellung zu Offenbach grotesk und beschämend sei, zumal, da Herr
Karl Kraus diese Ansicht zu wiederholten Malen, unter frenetischer
Zustimmung auch sozialistischer Hörer, dem öffentlichen Spotte aus
gesetzt hat. Um diese tiefgefühlte Blamage auszumerzen, wurde nun
der Privatankläger als „Fachmann“ entsendet, und dass dies zu dem
Zwecke geschah, nicht ein Referat zu erstatten, sondern über die
Blamage hinwegzukommen, geht aus dem Referat selbst deutlich her
vor, worin der Schein eines unerheblichen Fachwissens verwendet
wurde, um eine künstlerische Leistung herabzudrucken, vor deren
ganz anders geartetem Wesen sein Masstab jedenfalls unzuständig war.


Der Privatankläger sagt einleitend: „Wenn
sich der Vortragende auf musikalisches Gebiet begibt, hat er das
Recht darauf, dass sein künstlerisches Vorhaben vor allem vom
musikalischen Standpunkt aus betrachtet werde.“ Er spricht davon,
dass der Musiker schon nach wenigen Takten höre, dass dem Vortragenden die Fähigkeit fehle, Melos und Rythmus durch seinen Gesang
auszudrücken. Er eröffnet den Lesern die Erkenntnis, dass Offenbach für Orchester schreibe, für verschiedene Singstimmen, Chor
und Ensemble, und meint schliesslich, dass die musikalische Vor
tragsleistung etwa der Vorlesung eines Bühnendramas durch eine
Person vergleichbar wäre. Mit diesem mehr komischen Hinweis auf
eben das, was Herr Karl Kraus unternehmen will und seit Jahrzehnten
unternimmt, begibt sich aber der Privatankläger bewusst von den
künstlerischen Intentionen des Herrn Karl Kraus weg, die er
wohl erkennt, von denen er aber abzulenken versucht, um eine
scheinbare Rechtfertigung einer Unaufrichtigkeit, einer redaktionel
len Taktik zu demonstrieren. Es ist also der Beweis erbracht, dass
die Antriebe für den Privatankläger zum Referat in Liebedienerei
für die Redaktion und für die Partei bestehen. Dass gerade die
Vorlesungen des Herrn Karl Kraus als die geistigsten Interpreta
tionen Offenbachs kritisiert werden, geht nicht nur aus einer Zu
schrift des Musikers Eduard Steuermann, die er unter anderen auch
im Namen Alban Bergs an Karl Kraus richtete, hervor, sondern be
3sonders fasslich aus einer Kritik der „Wiener Neuesten Nachrichten
über die Blaubart-Aufführung des Berliner Metropol-Theaters im
Theater an der Wien, in welcher der doch so entgegengesetzt poli
tisch gerichtete Kritiker die Aufführung mit Orchester und En
semble weit hinter die Vorlesung des Herrn Karl Kraus stellt, von
ihm behauptet, dass er als Erster die innere Aktualität des
Offenbach’schen Werkes erkannt hat, als Einziger Geist und Kraft
besitzt, Offenbach’sche Welten lebendig und erneuert, ganz in
ihrem eigensten Wesen erfasst vor uns hinstellen zu können. Der
Kritiker, der gewiss zu erkennen vermöchte, dass Herr Karl Kraus
nicht die Absicht hat, es auch nur mit einem einzigen Tenor auf
zunehmen, meint, „was Karl Kraus gelingt ist wirkliche Offenbach-
Renaissance; in seinen Vorlesungen erstehen Libretti und Musik
in ihrer ganzen geistigen Schärfe, in ihrem tranzendenten Sar
kasmus, …“ während der Privatankläger seinen Lesern einreden
möchte, das Verdienst des Vortragenden sei auf eine Erneuerung
Meilhacs zu reduzieren. Auch der Komponist Ernst Křenek hat in
gleicher Weise über die Offenbach-Vorlesungen des Herrn Karl Kraus
geschrieben („AnbruchXI. Heft 3, März 1929, Universal Edition,
abgedruckt auf Seite 62f. der Fackel vom Anfang Mai 1929,D/806 bis 809 des 31. Jahres). Ferner verweise ich darauf, dass der
Berliner Rundfunk den gesamten Offenbach-Zyklus von Karl Kraus
in dessen Bearbeitung und stilistischer Gestaltung von März 1930
bis in den kommenden Winter aufführt und Herrn Karl Kraus zur
Leitung des Studiums mit den Sängern nach Berlin geladen hat, zu
einer Wirksamkeit, die eben verursacht hat, dass der Prozess des
Privatanklägers erst jetzt zur Durchführung gelangen kann.


Sollte das Gericht an diesen Belegen nicht
genug haben, so beantrage ich die Einholung eines Sachverständi
gengutachtens.


Es darf aber nicht unerwähnt bleiben, dass
die beleidigenden Behauptungen gegen den Privatankläger als Ver
treter des Schlieferl- und Tinterltums auch noch aus einem anderen
Grund gerechtfertigt sind. Hier wird der Beweis wie folgt ange
treten: Der Privatankläger ist organisierter Sozialdemokrat,
Musikreferent des Parteiorgans der Sozialdemokratie, und findet es
nichtsdestoweniger mit seiner Stellung nicht unvereinbar, als
Wiener Korrespondent der Berliner Börsenzeitung tätig zu sein.
Die Berliner Börsenzeitung ist ein Unternehmerblatt, schwankt
parteipolitisch zwischen der Deutschen Volkspartei und den
Deutschnationalen. Diese Zeitung bekämpft nicht nur aufs Heftig
ste die Arbeiterschaft, sondern ist selbstverständlich auch in
allen künstlerischen Fragen reaktionär eingestellt. Das hindert
aber den Privatankläger nicht, an diesem Blatte mitzuarbeiten.
Er lässt sich für seine Dienste von der Wiener Arbeiterschaft
und gleichzeitig von den Feinden der Arbeiterschaft bezahlen und
er gibt seine Mitarbeiterschaft auch dann nicht auf, wenn er ge-
zwungen ist, über eine Aufführung revolutionärer Musikwerke zu
schweigen oder vielleicht sogar sich diese Teile seines Referates
von der Redaktion streichen zu lassen. Ich lege ein Referat des
5Privatanklägers in der Arbeiter-Zeitung vom 12. November 1929 über
ein von Anton Webern geleitetes Jubiläumskonzert anlässlich der
25 Jahr-Feier der Arbeiter-Symphoniekonzerte vor und ein Referat
über die gleiche Aufführung in der Berliner Börsen-Zeitung vomF/15. November 1929.


In diesem Zusammenhang soll eine weitere
Tatsache nicht unerwähnt bleiben, die notorische Parteitreue
des Privatanklägers, die ihn an der Mitarbeit für ein bürgerlich
nationales Blatt nicht hindert, ist so stark, dass sie ihn sogar
dazu vermocht hat, eine Wohnbau-Kantate zu komponieren, deren Text
7dem Gericht als Stütze des Beweises vorgelegt wird, dass es sich
hier geradezu um ein Schulbeispiel jener Gesinnungs-Erbötigkeit
handelt, die in dem Ausdruck Schlieferl getroffen ist. Das ethische
Bild, zu dem sie beiträgt, wird aber keineswegs beeinträchtigt
durch den Umstand, dass der Privatankläger sich auch bemüht hat,
das klar zu Tage liegende Faktum der Komposition dieser Wohnbau
Kantate einfach in Abrede zu stellen. (Fackel vom Ende Oktober1929, Nr. 820 bis 826, XXXI. Jahr. Seite 57 bis 64.)


Der Beschuldigte ist – jenseits der Frage, ob
hier überhaupt das Kriterium der Beleidigung des Privatanklägers
vorliegt – der Meinung, dass kein formales Hindernis gegeben sein
könnte, ein Wort anzuwenden, das einen umrissenen und nachweisbaren
moralischen Sachverhalt bezeichnet, den zu beweisen er in der Lage
ist. Er hält ihn von allem anderen abgesehen, schon durch die
Kritik selbst, mit der sich der Privatankläger der ihm gestellten
Aufgabe unterzogen hat, für gegeben; nicht zuletzt aber auch durch
Beflissenheit, mit der er seine Identifizierung mit dem
Charakteristikum, das dem Typus gilt, durch die Klage betreibt.


als Verteidiger des Herrn Karl Kraus.


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