24. Juni 1930.
Dr.S/Fa.
G.Z. 4 U 1095/29
An das
Strafbezirksgericht IWien.
Privatankläger: Dr. Paul Amadeus Pisk, Musiker und
Musikschriftsteller, Wien IV., Schleifmühlgasse Nr.
19,
durch:
Dr. Otto Pisk,
Rechtsanwalt
als Verteidiger des
Beschuldigten: Karl Kraus, Schriftsteller in WienIII.,
Hintere Zollamtsstrasse Nr. 3,
wegen Ehrenbeleidigung.
1 fach
1 Vollmacht
7 Beilagen.
Schriftsatz zur Vorbereitung der Hauptverhandlung.
Den Wortlaut der vom Privatankläger
unter
Anklage gestellten Beleidigungen durch Zeugen
festzustellen, ist
überflüssig. Die Zusatzstrophe zum Höflings-Lied und die Vorbe
merkung dazu, die Herr Karl Kraus am
7. Juni 1929 vortrug, sind
auf Seite 83 der August-Nummer 1929 der Fackel, die Ausführungen,
die er am 10. Juni 1929
machte, in der gleichen Nummer Seite
175 bis 84
(811
bis 819 des 31. Jahrganges der Fackel) abgedruckt.
Da Herr Karl Kraus
niemals frei spricht son
dern immer vorliest, ist der
Abdruck die einzige verlässliche
Wiedergabe dessen, was bei
dem Vortrag vorgefallen ist. Ueber die
wörtliche Kongruenz des
tatsächlich Gesprochenen und des später
Gedruckten gibt es keinen Zweifel. Jeder Zeuge, der etwas anderes
bekundet als was im Druck
als gesprochener Text wiedergegeben ist,
würde die Unwahrheit sagen,
und hunderte Gegenzeugen würden ihm
widersprechen. Diese können
geführt werden und überdies die
Manuskripte, aus denen
gesprochen wurde und die mit dem Druck über
einstimmen, vorgewiesen
werden, wenn der leiseste Zweifel möglich
wäre, ob der mit dem Datum
des Vortrags versehene Druck mit dem
Wortlaut der Rede
übereinstimmt. Es ergibt sich daraus, dass der
Ausdruck Schlieferl am 7.
Juni 1929 vom Vortragenden nicht „wie
derholt“ wurde,
sondern dass er nur einmal gebraucht wurde, dass
nicht davon die Rede war,
ein Schlieferl sei im Saale anwesend,
sondern dass von einem
Schlieferl gesprochen wurde, das sich in
den Vortragssaal „verirrt hat und an einer
Zusatzstrophe Aergernis
nahm.“ Aus dieser Zeitform geht
schlüssig hervor, dass die Anklage auf der
willkürlichen Konstruktion eines nicht vorhandenen
Sachverhaltes beruht: auf
der falschen Beziehung einer Rede durch
das Missverstehen der in ihr
enthaltenen Zeitangabe. Doch schon
aus der Tatsache allein,
dass der Vortragende Vorbemerkung und
Zusatzstrophe von einem Zettel ablas, geht schlüssig hervor, dass
sich die Satire gegen eine
Person richten musste, die sich in
eine frühere Vorlesung
verirrt und an einer Zusatzstrophe Aerger
nis genommen hatte. Dass der
Privatankläger sich auch in die
Blaubart-Vorlesung verirrte und [Steno] an einer Zusatzstrophe
Aergernis
genommen hatte,
ist ein Sachverhalt, der dem Wissen des Vortragenden
nicht erschlossen war. Ausser dem Privatankläger selbst
hat niemand gewusst, dass er
sich auch früher in diesen Saal ver
irrt und an einer
Zusatzstrophe Aergernis genommen hatte. Dass
der Privatankläger
dies getan hat, dass er weiters gesagt hat,
Herr Karl Kraus sei
kein Sänger, wurde diesem von befreundeter
Seite zur Kenntnis gebracht,
daraus konnte er schliessen und
schloss er, dass dies die
Taktik sein werde, mit der sich die Arbeiter-Zeitung aus ihrer Blamage mit Offenbach
herauszudrehen ver
suchen werde. Ob dies in Form der Kritik eines der Fachreferenten
oder in anderer Form etwa
gelegentlich einer späteren Polemik ge
schehen werde, ging daraus
selbstverständlich nicht hervor. Die An
wesenheit des Fachreferenten am 7. Juni, also an dem Abend, an
dem
der Vortragende
die künftige Haltung der Arbeiter-Zeitung
prophe
zeite
und von einem Schlieferl sprach, war dem Vortragenden
absolut
unbekannt, und
erfuhr sie erst aus der Behauptung des Referats. Kei
nesfalls
wäre die Anwesenheit des Privatanklägers oder seine An
stossnahme an einer
Zusatzstrophe „vielleicht aus einer
abwehren
den Bewegung, die er
möglicherweise gemacht hat, ohne sich dessen
bewusst zu
sein“, für Herrn Karl Kraus
bemerkbar gewesen, da die
Vorträge bei total verdunkeltem Saal stattfinden, und dem Vortragenden das
Publikum unkenntlich bleibt. Aber selbst bei voll
beleuchtetem Saal, und auch
wenn ihm der Vortrag die Möglichkeit
zu Beobachtungen im Saalraum
liesse, hätte der Vortragende die
ihm
völlig entrückte Physiognomie des Herrn Pisk und seine
„mög
licherweise“
gemachte Abwehrbewegung nicht wahrgenommen. Die Be
hauptung, dass der Beschuldigte
den Kläger
„seit mehreren Jahren,
besonders seit dem Jahre 1924 kennt“ ist nur insofern richtig,
als er ihn eben damals
flüchtig gesehen hat, als er an der Musik
zum „Traumstück“ mitwirkte. (Darüber berichtet wurde
in der
Fackel mit keinem Worte.) Er würde ihn bestimmt
auf der Strasse
nicht
widererkennen. Die Vorstellung, dass er ihn nach fünf Jahren
im stockdunklen Saal
agnoszieren musste, zeigt von nicht geringem
Selbstbewusstsein, wie nicht
minder die Idee, dass Herr Karl Kraus,
wenn er wüsste, dass Herr
Pisk vor
ihm sitzt, ihn apostrophieren
würde. Es heisst, das Wesen der Podiumswirkung geistig und nerven
mässig verkennen, wenn man
dergleichen auch nur für möglich hielte.
Der Privatankläger
kann darüber vollkommen beruhigt sein, dass
weder der ahnungslose Vortragende
noch irgendein Hörer – es wäre
denn ein persönlich bekannter – eine Anwesenheit im Saale bemerkt
und konstatiert hat. Kein
Zuhörer würde den Bewegungen eines ande
ren Hörers – und wäre es
selbst der Referent der Arbeiter-Zeitung –
während des Vortrags seine
Aufmerksamkeit schenken. Aber sogar
wenn Herr Karl Kraus
gewusst hätte, dass der Privatankläger im Saal
anwesend war, und auch wenn
ein Grossteil des Publikums ihn erkannt
hätte – was zu vermuten ja
absurd ist –, war die Beziehung auf den
Privatankläger
schon deshalb nicht herzustellen, weil damals Herrn
Karl Kraus
lediglich bekannt war, dass „ein Schlieferl“ an einer
Zusatzstrophe Anstoss
genommen habe, als welches ihm überhaupt
keine konkrete Person,
sondern nur der Vertreter des journalisti
schen Typus gegenwärtig war.
Nichts liegt dem Beschuldigten ferner
als die bekannte Methode einer Verteidigung, man habe den Kläger
„nicht gemeint“. Gemeint ist
jeder, der zum Typus gehört und sich
als Vertreter vorstellig
aber nicht jeder ist das polemische Objekt,
dessen Erkennbarkeit auch
die juristische Voraussetzung herstellt.
Erkennbar und beleidigt war
der Privatankläger
erst durch seine eigene Kritik vom 9. Juni 1929, zumal da er
in
dieser Kritik, sowie
vorausgesagt wurde, pünktlich bekannte, dass
Offenbach nicht
„verklungen und vertan“ ist, dass an dem Uebel
stand lediglich schuld sei,
dass Herr Karl
Kraus nicht singen könne.
Für diese nachträgliche
Erkennbarkeit ist aber Herr Karl Kraus
nicht verantwortlich. Es
könnten auch vom Beschuldigten eine
grössere Anzahl von Zeugen geführt werden, die die Stelle des
Vortrages auf Herrn David Bach gemünzt haben, den Kunstchef
der Arbeiter-Zeitung, weil dieser ja sowohl in der
Vorbemerkung
als auch in
der Zusatzstrophe tatsächlich mit Namen genannt wird.
Aber auch diese Deutung wäre
also gewesen, da es Herrn KarlKraus überhaupt nicht darauf ankam, gegen eine bestimmte unge
wichtige Person
Satire zu üben, sondern lediglich gegen das Zen
tralorgan der
Sozialdemokratie, dessen zufälliger Vertreter ja
vollständig gleichgiltig
war, dessen „Schlieferl- und
Tinterltum“
er
aber nachweislich seit Jahren als jene wirkende Kraft kenn
zeichnet, deren Walten allen
früheren enthusiastischen Bekenntnis
sen zu Karl Kraus
Hohn spricht.
In gleicher Weise ist die
Polemik vom 10.
Juni 1929
nicht den Privatankläger als Person sondern gegen
das Zentralorgan der
Sozialdemokratie gerichtet und sie befasst
sich mit dem Privatankläger
nur insoweit, als sein Aufsatz
die
Grundlage dieser
Polemik bildete. Die Behauptungen der Klage, Herr
Karl Kraus
habe den Artikel zur Hand genommen
und versucht, ihn
Satz für
Satz zu zerpflücken, indem er jedesmal einleitend sagte:
„das Schlieferl
schreibt“ oder „das Schlieferl schreibt
weiter“,
sind zur
Gänze unwahr. Bis auf den letzten Satz der Ausführungen
ist zwar
vom „Schlieferl- und
Tinterltum“, von „Schlieferl-
Praktiken“
gesprochen worden, niemals aber von einem Schlieferl.
Es ist überflüssig an jeder
einzelnen Stelle zu sagen, dass die
Behauptungen der Klage unrichtig sind. Gleichwohl darf die Ver
zerrung eines
geistigen und moralischen Sachverhalts in dem Satz:
„der Beschuldigte fühlt sich seit einiger Zeit dadurch zurückge-
setzt, dass seine
Bedeutung in der Presse Wiens nicht nach Ge
bühr
gewürdigt wird“ nicht ungewürdigt bleiben. Es ist eine
allgemein bekannte Tatsache,
dass sich die bürgerliche Presse
Wiens für den dreissigjährigen Kampf der Fackel durch Totschwei
gen gerächt hat, neu, aber
gewiss nicht unberechtigt ist der
Stolz, mit der sich die
sozialdemokratische Presse ihr anschliesst,
seitdem die Fackel ihre Laster mit denen der bürgerlichen Presse
identifiziert. Immerhin ist
das Zugeständnis beruhigend, dass die
se schon eher
kulturgeschichtliche Wirksamkeit nicht in das
„Ressort“ des Privatanklägers fällt. Warum sollte man also gerade
diesem das Totschweigen
nachtragen? Die Behauptungen, dass der
Beschuldigte
gesagt habe, ein Schlieferl sei „hier im Saal anwesend;
mit ein paar Slezaks
nehme er es noch auf; er wisse, er werde ver
urteilt werden; der Privatankläger sei ein kümmerlicher Schönberg
schüler“; und
andere widersprechen dem gedruckten Wortlaut der
Reden. Unwahr ist, dass der
Wortwitz „Korrepetite“ sich auf
die
„bekannte Tätigkeit“
des Privatanklägers bezog; er bezog sich auf
die Anmassung, Herrn Karl Kraus
Rythmus lehren zu wollen. Die
Tätigkeit des Privatanklägers als Korrepetitor war ihm so wenig
bekannt, wie er „wusste und sah, dass Herr Pisk am 7.
Juni im Saal
anwesend
war“. Dies als „zweifellos“
hinzustellen, ist einiger
massen übertrieben. Auch in
dem letzten Satz der Ansprache vom
10. Juni wurde der Privatankläger
nicht als „Schlieferl“ apo
strophiert, sondern gesagt,
dass der Vortragende, „sollte der
Musikfachmann, der behauptet hat, dass ihm die Bezeichnung
‚Schlieferl‘ gelte,
wieder anwesend sein, ihm noch bessere Nerven
wünsche als sich selbst,
denn er beneide ihn nicht um die geradezu
elementare Wirkung die
er auf sein Publikum als Schriftsteller
durch Polemik und Satire
erziele.“ (Eine der Kritik des Privatanklägers entnommene Wendung.)
Da jedoch der Privatankläger
die Exekutive
der an Herrn
Karl Kraus
geübten Schlieferl-Praktiken und des gegen
ihn wirkenden Schlieferl-
und Tinterltums tatsächlich übernommen
hat, so könnte das Gericht vielleicht den Standpunkt
einnehmen, dass
Herr Karl Kraus, um
freigesprochen zu werden, einen Wahrheitsbeweis
führen müsse, und diesen
Wahrheitsbeweis trete ich nunmehr als Ver
teidiger des Herrn Karl Kraus an.
Zuerst möge eine
Begriffsfeststellung vorge
nommen werden. Nach Sanders bedeutet: schliefen = kriechen siehe
schlüpfen; schlüpfen =
gleitend oder wie gleitend, schnell, behend,
unvermerkt und durch eine
enge Oeffnung, einen eng umschlossenen
oder so gedachten Raum sich
bewegen, gw. mit Absicht (vereinzelt
auch ohne Absicht), eig. und
übertr. Davon der Schliefer, z.B.
Dachs-Schliefer. Schliffel = Schlingel. Nach Adelung bedeutet:
schliefen = sich schleifend
oder kriechend in einem engen Raume be
wegen. kriechen. Z.B.: Durch einen Zaun schliefen. Vor Angst in ein
Mausloch schliefen wollen.
Die Dachshunde schliefen in die Dachs
löcher. Das Intensivum ist
schlüpfen, das eine engere Oeffnung,
mehr windende Bemühung und
eine grössere Glätte oder Biegsamkeit
des Leibes voraussetzt: sich
mit einem glatten oder biegsamen Körper
durch eine enge Oeffnung
winden, da es denn auch oft in weiterer Be
deutung für schnell kriechen
oder schnell schleichen überhaupt ge
braucht wird. Der Schliefer
= Ein Ding, welches schliefet.
Nach Hügel, Wiener
Dialektwörterbuch (Lexikon der Wiener Volkssprache, Idiotocon
Viennense) Hartleben 1873,
bedeutet: schliarf’n
= sich
kriechend in einen engen Raum begeben; sich um die Gunst von
Jemand bewerben. Z.B. Der N.
möchd’ unsern Herrn ordentli’ in
Hintern schliarf’n (d.h.
sich bei ihm einschmeicheln). Und nach
Jakob, Wörterbuch
des Wiener Dialektes, Gerlach und
Wiedling 1929:
Schliaferl = widerlicher
Schmeichler, Liebediener. Es ist also der
Beweis möglich, dass die
sich den Anschein der Sachlichkeit gebende
Kritik des Privatanklägers nur zu Gefallen der redaktionellen und
parteimässigen Auftraggeber
und im Anschluss an die zwischen Herrn
Karl Kraus und
der Arbeiter-Zeitung bestehenden
Polemik geschrieben
worden
ist.
Zur Erläuterung muss etwas
weiter ausgeholt
werden. Herr
Karl
Kraus, der dem Sozialismus gefühlsmäßig nahe
steht, hat bald nach der
Zeit des Krieges, in der eine mannhaftere
Haltung der
sozialdemokratischen Partei zu verzeichnen war, beob
achten und aussprechen
müssen, dass sie genau so wie die bürgerli
chen Parteien
Opportunitätspolitik betreibe und ihre Einstellung
zu Leben und Kunst ganz der
Schablone des von ihr weiterhin, also
pharisäisch bekämpften
Bürgertums angenommen habe. Da die Sozial
demokratie diese
Unmutsäusserungen des Herrn Karl Kraus als partei
disziplinwidrig empfand,
einer sachlichen Polemik aber nicht ge
wachsen war und zu einer
Aenderung ihrer Haltung nicht die Kraft
aufbrachte, begnügte sie
sich mit einer Aenderung ihrer Haltung
gegenüber dem bis dahin
panegyrisch gefeierten Herrn Karl Kraus, den
aber kein Lob zur
Unterdrückung der erkannten Wahrheit bestimmen
konnte. Zuerst durch
Totschweigen, dann durch kleinliche Schikanen.
Herr Karl Kraus hat
dies in seinem Vortrag vom 22. September 1928,
veröffentlicht in den Nummern
795 bis 799 des 30. Jahres der Fackel,
2„Rechenschaftsbericht“ ausführlich dargestellt.
Die Arbeiter-Zeitung
entgegnete in zwei
umfänglichen Artikeln vom 23. und
25. Dezember1928
„Auseinandersetzung mit Karl Kraus“, die aber ein einziger
Gallimathias waren.
Interessant für diesen Prozess ist lediglich
das, was dort über die Offenbach-Vorlesungen gesagt wird. Die
Arbeiter-Zeitung, der das Totschweigen der Offenbach-Erneuerung vor-
geworfen war, meinte, dass
sie die Offenbach-Vorlesungen deshalb
nicht beachtet habe, weil
sie „über
die Möglichkeit und Notwendig
keit einer
Wiederbelebung der Offenbach-Operetten anders denke“.
Sie sagte, dass sie der
Meinung sei, „diese Kunst aus dem Geiste
des dritten
Kaiserreiches sei verklungen und vertan.“ Die ArbeiterZeitung musste
selbst bald zu der Erkenntnis kommen, dass diese
Einstellung zu Offenbach
grotesk und beschämend sei, zumal, da Herr
Karl Kraus
diese Ansicht zu wiederholten Malen, unter frenetischer
Zustimmung auch
sozialistischer Hörer, dem öffentlichen Spotte aus
gesetzt
hat. Um diese tiefgefühlte Blamage auszumerzen, wurde nun
der Privatankläger
als „Fachmann“ entsendet, und dass dies zu dem
Zwecke geschah, nicht ein
Referat zu erstatten, sondern über die
Blamage hinwegzukommen, geht
aus dem Referat selbst deutlich her
vor, worin der Schein eines
unerheblichen Fachwissens verwendet
wurde, um
eine künstlerische Leistung herabzudrucken, vor deren
ganz anders geartetem Wesen
sein Masstab jedenfalls unzuständig war.
Der Privatankläger
sagt einleitend: „Wenn
sich der Vortragende auf
musikalisches Gebiet begibt, hat er das
Recht darauf, dass sein
künstlerisches Vorhaben vor allem vom
musikalischen Standpunkt
aus betrachtet werde.“ Er spricht davon,
dass der Musiker schon nach
wenigen Takten höre, dass dem Vortragenden die
Fähigkeit fehle, Melos und Rythmus durch seinen Gesang
auszudrücken. Er eröffnet
den Lesern die Erkenntnis, dass Offenbach für Orchester
schreibe, für verschiedene Singstimmen, Chor
und Ensemble, und meint
schliesslich, dass die musikalische Vor
tragsleistung etwa der
Vorlesung eines Bühnendramas durch eine
Person vergleichbar wäre.
Mit diesem mehr komischen Hinweis auf
eben das, was Herr Karl Kraus
unternehmen will und seit Jahrzehnten
unternimmt, begibt sich aber
der Privatankläger bewusst von den
künstlerischen Intentionen
des Herrn Karl
Kraus weg, die er
wohl erkennt, von denen er aber abzulenken versucht, um eine
scheinbare Rechtfertigung
einer Unaufrichtigkeit, einer redaktionel
len Taktik zu demonstrieren.
Es ist also der Beweis erbracht, dass
die Antriebe für den Privatankläger
zum Referat in Liebedienerei
für die Redaktion und für die Partei bestehen. Dass gerade die
Vorlesungen des Herrn Karl Kraus als
die geistigsten Interpreta
tionen Offenbachs
kritisiert werden, geht nicht nur aus einer Zu
schrift des Musikers Eduard Steuermann,
die er unter anderen auch
im
Namen Alban Bergs an
Karl Kraus richtete, hervor, sondern be
3sonders fasslich aus einer Kritik der
„Wiener Neuesten Nachrichten“
über die Blaubart-Aufführung des Berliner Metropol-Theaters im
Theater an der Wien, in welcher der doch so entgegengesetzt
poli
tisch
gerichtete Kritiker die Aufführung mit Orchester und En
semble weit hinter die
Vorlesung des Herrn Karl Kraus stellt, von
ihm behauptet, dass er als
Erster die innere Aktualität des
Offenbach’schen
Werkes erkannt hat, als Einziger Geist und Kraft
besitzt, Offenbach’sche
Welten lebendig und erneuert, ganz in
ihrem eigensten Wesen
erfasst vor uns hinstellen zu können. Der
Kritiker, der gewiss zu
erkennen vermöchte, dass Herr Karl Kraus
nicht die Absicht hat, es
auch nur mit einem einzigen Tenor auf
zunehmen, meint, „was Karl Kraus
gelingt ist wirkliche Offenbach-
Renaissance; in seinen
Vorlesungen erstehen Libretti und Musik
in ihrer ganzen
geistigen Schärfe, in ihrem tranzendenten Sar
kasmus, …“
während der Privatankläger seinen Lesern einreden
möchte, das Verdienst des
Vortragenden sei auf eine Erneuerung
Meilhacs zu reduzieren. Auch der Komponist Ernst Křenek hat in
gleicher Weise über die Offenbach-Vorlesungen des Herrn Karl Kraus
geschrieben („Anbruch“ XI. Heft
3, März 1929, Universal
Edition,
abgedruckt
auf Seite
62f. der Fackel vom Anfang Mai 1929,D/806 bis 809 des 31. Jahres). Ferner verweise
ich darauf, dass der
Berliner
Rundfunk den gesamten Offenbach-Zyklus von Karl Kraus
in dessen Bearbeitung und
stilistischer Gestaltung von März 1930
bis in den kommenden Winter
aufführt und Herrn Karl Kraus zur
Leitung des Studiums mit den Sängern nach Berlin
geladen hat, zu
einer
Wirksamkeit, die eben verursacht hat, dass der Prozess des
Privatanklägers erst jetzt zur Durchführung gelangen kann.
Sollte das Gericht an diesen Belegen nicht
genug haben, so beantrage
ich die Einholung eines Sachverständi
gengutachtens.
Es darf aber nicht unerwähnt
bleiben, dass
die
beleidigenden Behauptungen gegen den Privatankläger
als Ver
treter des
Schlieferl- und Tinterltums auch noch aus einem anderen
Grund gerechtfertigt sind.
Hier wird der Beweis wie folgt ange
treten: Der Privatankläger
ist organisierter Sozialdemokrat,
Musikreferent des Parteiorgans der Sozialdemokratie, und
findet es
nichtsdestoweniger
mit seiner Stellung nicht unvereinbar, als
Wiener Korrespondent der Berliner Börsenzeitung tätig zu sein.
Die Berliner Börsenzeitung ist ein Unternehmerblatt, schwankt
parteipolitisch zwischen der
Deutschen Volkspartei und den
Deutschnationalen. Diese Zeitung bekämpft nicht nur aufs Heftig
ste die
Arbeiterschaft, sondern ist selbstverständlich auch in
allen künstlerischen Fragen
reaktionär eingestellt. Das hindert
aber den Privatankläger
nicht, an diesem Blatte mitzuarbeiten.
Er lässt sich für seine
Dienste von der Wiener Arbeiterschaft
und gleichzeitig von den
Feinden der Arbeiterschaft bezahlen und
er gibt seine
Mitarbeiterschaft auch dann nicht auf, wenn er ge-
zwungen ist, über eine
Aufführung revolutionärer Musikwerke zu
schweigen oder
vielleicht sogar sich diese Teile seines Referates
von der Redaktion
streichen zu lassen. Ich lege ein Referat des
5Privatanklägers in der Arbeiter-Zeitung vom 12. November 1929 über
ein von Anton Webern geleitetes Jubiläumskonzert anlässlich der
25 Jahr-Feier der
Arbeiter-Symphoniekonzerte vor und ein Referat
über die gleiche Aufführung
in der Berliner Börsen-Zeitung vomF/15. November 1929.
In diesem Zusammenhang soll
eine weitere
Tatsache nicht
unerwähnt bleiben, die notorische Parteitreue
des Privatanklägers, die ihn an der Mitarbeit für ein bürgerlich
nationales Blatt nicht
hindert, ist so stark, dass sie ihn sogar
dazu vermocht hat, eine Wohnbau-Kantate zu komponieren,
deren Text
7dem Gericht als Stütze des Beweises vorgelegt wird, dass es
sich
hier geradezu um ein
Schulbeispiel jener Gesinnungs-Erbötigkeit
handelt, die in dem Ausdruck
Schlieferl getroffen ist. Das ethische
Bild, zu dem sie beiträgt,
wird aber keineswegs beeinträchtigt
durch den Umstand, dass der
Privatankläger sich auch bemüht hat,
das klar zu Tage liegende
Faktum der Komposition dieser Wohnbau
Kantate einfach in Abrede zu
stellen. (Fackel vom Ende Oktober1929, Nr. 820 bis 826, XXXI. Jahr. Seite 57 bis 64.)
Der Beschuldigte
ist – jenseits der Frage, ob
hier überhaupt das Kriterium der Beleidigung des Privatanklägers
vorliegt – der Meinung, dass
kein formales Hindernis gegeben sein
könnte, ein Wort anzuwenden,
das einen umrissenen und nachweisbaren
moralischen Sachverhalt
bezeichnet, den zu beweisen er in der Lage
ist. Er hält ihn von allem
anderen abgesehen, schon durch die
Kritik selbst, mit der sich
der Privatankläger der ihm gestellten
Aufgabe unterzogen hat, für
gegeben; nicht zuletzt aber auch durch
Beflissenheit, mit der er
seine Identifizierung mit dem
Charakteristikum, das dem Typus gilt, durch die Klage betreibt.
als Verteidiger des Herrn
Karl
Kraus.