Geschenke des Lebens


148 B.600.31


Beschluß.


In der Privatklagesache
des Schriftstellers Karl Kraus
Wien III, Hintere Zollamtstraße Nr. 3,
Privatklägers,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Willy Katz,
Berlin SW. 68, Friedrichstraße 204,
gegen
den Schriftsteller Emil Ludwig zu Askona/Schweiz,
Beschuldigten,
wegen Beleidigung,
wird die Privatklage auf Kosten des Privatklägers zurück
gewiesen.


Gründe.


Der Privatkläger fühlt sich durch eine Schilderung sei
ner Persönlichkeit beleidigt, die der Beschuldigte in seiner
eigenen Lebensbeschreibung „Geschenke des Lebens“ aus seinem
Aufenthalt in Wien vor dem Kriege von ihm gab. Zu verkennen
war nicht, daß der Privatkläger in dieser Schilderung wenig
günstig abschnitt; ja, daß der Beschuldigte manche nachtei
ligen Charakterzüge hervorhob und daß dies dem Privatkläger
unangenehm sein, ja ihn vielleicht verletzen konnte. Indessen
durfte nicht übersehen werden, daß die Schilderung des Beschuldigten in Form einer Gegenüberstellung mit dem Schrift
steller Altenberg, einem Zeitgenossen des Privatklägers, er
folgte und daß dieser offensichtlich dem Beschuldigten be
sonders sympathisch war. Bedingte aber schon dieses gegen
seitige Abwägen der Persönlichkeiten des Privatkläger mit
der des Altenberg ein Hervortreten der Verschiedenheit ihrer
Charaktere und, vom Standpunkt des Beschuldigten aus, gegen
über den Vorzügen des Altenberg eine abfällige Kritik des
Privatklägers, so war auch aus dem Zusammenhang und Inhalt
des ganzen Werkes des Beschuldigten ohne weiteres zu ent
nehmen, daß ihm dabei das Bewußtsein oder gar die Absicht
einer Beleidigung des Privatklägers völlig fernlag. Das Werk
reihte die Begegnungen mit den verschiedensten Persönlichkei
ten aneinander und ging auf ihr Wesen, ihre Veranlagungen und
ihre Tätigkeit so ein, wie sie dem Beschuldigten entgegenge
treten waren und wie sie ihm jetzt erschienen. Gab der Beschuldigte aber in freier künstlerischer Gestaltung dabei
seiner – wie ihm zu glauben war – ehrlichen Überzeugung Aus
druck, so war ihm auch ohne weiteres zu glauben, daß er nie
mals dabei daran dachte, beleidigend zu wirken, auch wenn er
die einzelnen Persönlichkeiten seines Bekanntenkreises ab
fällig besprach. Infolgedessen bestand kein Anlaß gegen den
Beschuldigten strafrechtlich einzuschreiten, da in seiner
Person der Tatbestand des § 185 StGB. nicht erfüllt war.
Jeder richterliche Eingriff hätte das freie schriftstelleri
sche Schaffen des Beschuldigten über Gebühr eingeengt und be
schwert. Endlich enthielt die Schilderung auch keine Formal
beleidigung des Privatklägers.


Berlin, den 4. Dezember 1931.
Amtsgericht Berlin-Mitte, Abteilung 148.
gez. Dr. Bues,
Amtsgerichtsrat.


Ausgefertigt:
Berlin NW. 40, den 7. Dezember 1931
Alt Moabit 11.
[Unterschrift]
Justizangestellter
als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle.


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