Der Verrat der GeistigenZeitstrophenDer Sozialdemokrat, 30.11.1935Die Fackel als fascistische Hetzschrift?Die letzten Tage der MenschheitSprüche und WidersprücheDie Unüberwindlichen. Nachkriegsdrama in vier AktenKarl Kraus und die StaatshalunkenDie FackelKarl Kraus – sechzig Jahre [Der Sozialdemokrat]


Bei der Hauptverhandlung vom 27. November
1935 hat das Gericht über Antrag der Verteidigung den Beschluss
gefasst, die Akten dem Obergerichte in Prag zur Entscheidung
über den gestellten Delegierungsantrag vorzulegen.


Zu diesem Beschluss und zu dem Antrag der
Verteidigung überreicht der Privatkläger die folgende
Aeusserung.


Wie aus dem Akte hervorgeht, hat sich der
Angeklagte zur Erbringung eines Wahrheitsbeweises auf die Not
wendigkeit der Vorlesung einer ganzen Bibliothek berufen, be
stehend aus den Fackelheften Nr. 766–770 (92 Seiten), 771–776
(112 Seiten), 777 (16 Seiten), 778–780 (56 Seiten),
787–794 (208 Seiten), 890–905 (315 Seiten), ferner den
Dramen „Die letzten Tage der Menschheit“ (792 Seiten),
Die Unüberwindlichen“ (158 Seiten) und der Gedichtsammlung
Zeitstrophen“ (204 Seiten).


Dieser ungeheuerliche Versuch, ein solches
angeblich zu Beweiszwecken dienendes Material zu produzieren
– ein Versuch, der allein schon die Verschleppungsabsicht er
kennen lässt –, hat die Veranlassung gegeben, dass der Angeklagte – lange nach der überschrittenen Frist – einen „Dele
gierungsantrag“ gestellt hat, weil die Kosten der Uebersetzung
dieser zum Beweis herangezogenen Schriften an die 100.000.–– Kc.
betragen würden, die er, ein fix besoldeter Beamter, der für
eine Familie mit zwei Kindern zu sorgen habe, aufzuwenden nicht
in der Lage sei, „aus welchem Grunde es dem Verteidiger unmög
lich gewesen sei“, in der vom Gericht gewährten Frist dem Auf
trage, die im Beweisbeschluss vom 1.3.1935 angeführten Schrift
stücke in beglaubigter Uebersetzung in die Staatssprache vor
zulegen, zu entsprechen.


Diese monströse, gewiss noch nie dagewese
ne Beweisaufnahme soll lediglich zu dem Zwecke vorgenommen wer
den, um darzutun, dass der Standpunkt des Privatklägers im
Fackelheft vom Juli 1934 (890–905) in einem absoluten Wider-
spruch zu all dem stehe, was der Privatkläger „Jahrzehnte hin
durch verkündet und geschrieben hat“. Dieser angebotene Wahr
heitsbeweis über Widersprüche in der Meinung des Privatklägers
ist aber ein Monstrum, einzig und allein darauf angelegt, von
vornherein Verwirrung zu stiften und den im Umfang minimalen
Tatbestand einer gewöhnlichen Ehrenbeleidigung hinter einer un
möglichen, völlig deplazierten Debatte verschwinden zu lassen.
Der Angeklagte wurde nicht deshalb zur Verantwortung gezogen,
weil er dem Privatkläger Widersprüche vorgeworfen hat – in dem
inkriminierten Artikel kamen solche Behauptungen, die auch
gar nicht beleidigend oder anklagbar wären, überhaupt nicht vor –,
sondern er wurde zur Verantwortung gezogen, weil er den Privatkläger ganz bestimmter ehrloser Handlungen bezichtigte, wie z.B.
dass die Zeitschrift „Die Fackel“ eine Hetzschrift sei; dass es
sich bei dem Privatkläger um einen Verfall handle, nämlich um
einen moralischen Verfall, wie aus einem späteren gleichfalls
zu inkriminierenden Artikel hervorgeht, einen Verfall, der in
der Tiefe des Absturzes wohl den Gerhart Hauptmanns übertreffe;
dass er versucht habe, die tschechoslovakischen Behörden gegen
die österreichische Emigration und gegen einzelne Schriftsteller
aufzuputschen (eine Behauptung, zu deren Beweis das Vorlesen einer
Stelle von wenigen Zeilen genügen wurde, die aber das gerade Ge
genteil ergeben wird); dass er den Ruhm erwerben könnte, der
Zutreiber des österreichischen Henkers geworden zu sein; dass
er sich dazu versteige, einen ausgewachsenen Zuchthäusler
(gemeint ist der österreichische Vizekanzler Starhemberg) über
Lassalle zu stellen (es handelt sich ausschliesslich um eine
Bemerkung über eine oratorische Begabung) u.s.w. u.s.w. Zuge
geben, dass sämtliche behaupteten oder nicht behaupteten Wider
sprüche und noch mehr im Geisteswerk des Privatklägers, das
vorliegt und in das alle Welt Einsicht nehmen kann, wahr wären,
so berechtigt kein Widerspruch, so „höchst auffallend“ er dem
Angeklagten erscheinen mag, ohne Beweis der unlauteren Motive
für diesen Widerspruch, den Privatkläger zu beleidigen. Ein
richtig geführter Wahrheitsbeweis, der zur Entlastung des
Angeklagten führen könnte, hätte also diese unlauteren Motive
und einzig und allein diese zu beweisen, etwa dass der Privatkläger für seinen angeblichen Gesinnungswechsel in irgend einer
Form bestochen worden sei, dass er ihn aus Feigheit, Streberei,
Stellensucht, aus dem Drang nach einer sichtbaren Position im
Geistesleben oder dergleichen oder aus irgend einem anderen
schäbigen Grund welcher Art immer vorgenommen habe. Der angeb
liche „ Gesinnungswechsel“ als solcher kann vor keinem Gerichte
der Welt, in keiner Sprache der Welt, zum Gegenstand eines
Wahrheitsbeweises gemacht werden, weil der Vorwurf des Ge
sinnungswechsels ohne den Vorwurf des unlauteren Motivs niemals
Gegenstand eines Ehrenbeleidigungsprozesses bilden kann, da er
keine Ehrenbeleidigung bildet. Selbst wenn bereits in dem beleidigenden Artikel (und nicht erst später als Verschleppungs
manöver) behauptet worden wäre, es läge ein krasser Gesinnungs
wechsel vor, dann wäre zwar der angebotene Beweis mit dem Vor
wurf kongruent, ein solcher Beweis müsste aber vom Gericht ab
gelehnt werden, weil dieser Vorwurf keine Beleidigung ist, und
der Angeklagte müsste freigesprochen werden. Zu einer Beleidi
gung wird der Vorwurf (der allenfalls die Ernsthaftigkeit des
Autors problematisch macht, was aber noch lange keine Beleidi
gung ist) einzig und allein durch die Motive, und einzig und
allein für diese muss der Angeklagte die Beweise anbieten, Be
weise, die in jeder Sprache und vor jedem Forum binnen einer
Stunde überprüfbar sind und vor dem Gerichte in der Staats
sprache nicht einmal eines Dolmetschers bedürften.


Der Antrag des Angeklagten, es mögen 1953
Seiten aus den Schriften des Privatklägers zur Verlesung gelan
gen, aus welchen dann hervorgehen soll, dass ein Gesinnungs
wechsel bei ihm vorliegt, hat mit der Sphäre des Wahrheitsbe
weises, die sich lediglich auf die Motive für den Gesinnungs
wechsel zu erstrecken hätte, nicht das Geringste zu tun, und der
Angeklagte und sein Verteidiger sind sich selbstverständlich
dessen auch ganz und gar bewusst; ihr Manöver mit dem Nachweis
des Gesinnungswechsels hat denselben Zweck wie ihr weiteres
Manöver mit dem Angebot der Uebersetzung dieser Schriften in
die Staatssprache, nämlich den Zweck, die klare und kurze
Sache zu trüben und zu verschleppen. Die Tatsache, dass es ab
solut unmöglich ist, die vom Angeklagten angeführten Schriften
des Privatklägers ins Tschechische zu übersetzen, musste ihm
und seinem Verteidiger schon bei Stellung des Antrages voll
kommen bewusst gewesen sein; dies ist so klar wie der Sachver
halt selbst. Insbesondere aber musste der Angeklagte wissen,
dass er nicht imstande sein werde, die Kosten der Uebersetzung
aufzubringen, weil er für zwei Kinder zu sorgen hat, und er
hatte, wenn er ein ehrlicher Prozessgegner wäre, diesen angeb
lichen Notstand dem Gerichte sofort bekanntzugeben. Anstatt
dessen liess er sich eine sechsmonatige Frist für die Ueber
setzung gewähren, um nach Ablauf derselben zu erklären, dass
er „in der vom Gerichte gewährten Frist“ dem Auftrage, die
Uebersetzungen vorzulegen, nicht entsprechen könne. Aus der
vom Angeklagten gewählten Begründung der Nichtvorlage „in der
vom Gerichte gewährten Frist“ geht klar hervor, dass diese
Prozessführung auf der Taktik der Verschleppung aufgebaut ist.
Hier wird ganz offenbar der Versuch einer Irreführung durch
eine Zusammenfügung disparater Vorstellungen, durch einen Ton
fallschwindel, unternommen. Die Armut des Angeklagten erlaubt
ihm weder in der vom Gericht gewährten Frist noch in irgend
einer Frist, die Uebersetzungen vorzulegen (es wäre denn, er
hätte die Aussicht auf eine Millionenerbschaft oder einen
Haupttreffer gehabt). Zu dieser Ueberlegung musste er, wenn
schon nicht bei oder vor der Hauptverhandlung, bei welcher ihm
der Auftrag erteilt wurde, so doch mindestens nach einer Woche
kommen, und der Angeklagte hätte, wenn er wie gesagt ein ehr
licher Prozessgegner wäre, die moralische Verpflichtung gehabt,
sofort dem Gerichte diesen Umstand bekanntzugeben. Anstattdes-
sen hat er die Frist verstreichen lassen. Dies zeigt schlagend
die Unaufrichtigkeit der gegnerischen Prozessführung.


Aber nicht nur die Uebersetzung der Schrif
ten des Privatklägers ist absolut unmöglich, auch die blosse
Verlesung derselben in diesem Prozesse wäre ebenso wie sie ab
surd ist, technisch einfach undurchführbar. Der Angeklagte ver
langt zum Beweise eines Widerspruchs, der, solange die Motive
nicht unlautere sind, völlig gleichgiltig wäre, die Verlesung von
1953 Buchseiten, eine Verlesung, die, wenn man selbst einen
Verhandlungstag mit zirka sechs Stunden veranschlagt, und an
nimmt, dass die Richter so schwierige und vermutlich nicht ge
rade plastische Vorlesungen in dieser Dauer überhaupt ertragen
könnten, bei einer tätlichen Ration von 60 Seiten 32 Verhand
lungstage, also zirka sechs Wochen dauern wurde. Die Stellung
der Beweisanträge erfolgt also in der offenbaren Absicht, das
Verfahren zu sabotieren, in einer Sache, die nun schon länger
als ein Jahr dauert, die Urteilsfällung zu verzögern und das
Gericht über den wahren Sachverhalt hinwegzutäuschen.


Davon abgesehen würde aber auch die Höhe
der Kosten der beglaubigten Uebersetzung keinen gesetzlichen
Grund für eine Delegierung bilden. Gemäss § 62 St.P.O. sind die
Gerichtshöfe zweiter Instanz berechtigt, „aus Rücksichten der
öffentlichen Sicherheit oder aus anderen wichtigen Gründen aus
nahmsweise dem zuständigen Gerichte Strafsachen abzunehmen und
sie einem anderen Gerichte derselben Art in ihrem Sprengel zu
zuweisen“. Es müssen also, abgesehen von Rücksichten der öffent
lichen Sicherheit, wichtige Gründe vorliegen, welche die aus
nahmsweise Abtretung eines Straffalles von dem zuständigen Ge
richte an ein zu delegierendes Gericht begründet erscheinen
lassen. Es kann gar keinem Zweifel unterliegen, dass in diesem
Falle die Voraussetzungen hiefür nicht vorliegen. Der Dele
gierungsantrag stützt sich auf die Behauptung, dass der Angeklagte nicht in der Lage sei, die Kosten der Uebersetzung der
von ihm zum Wahrheitsbeweis angebotenen Schriften zu tragen.
Der Angeklagte Dr. Emil Strauss ist aber in Wahrheit nur das
verantwortliche Organ eines des gut fundierten Blattes einer Partei,
die über viele Millionen verfügt und ihn zum verantwortlichen
Redakteur ihres Hauptorganes bestellt hat. Nicht der Angeklagte
wäre verpflichtet, die Kosten der Uebersetzung zu tragen, son
dern sein Blatt, seine Partei. Der Angeklagte wird sich vergeb
lich bemühen, jemandem glaubhaft zu machen, dass er für die
mit seiner Stellung als verantwortlicher Redakteur verbundenen
materiellen Folgen selbst aufkommen müsse, und kein mit den
Presseverhältnissen nur einigermassen Vertrauter wird ihm glau
ben, dass die Kosten, die mit der Führung dieses Prozesses ver
bunden sind, tatsächlich von ihm getragen wurden. Wenn aber
schon eine materielle Erwägung ausschlaggebend sein soll, näm
lich für die Delegierung, so wäre doch wohl (für die Vorbringung
des Materials in welcher Sprache immer) mit weit mehr Recht zu
fragen, wie der Kläger, der bloss Ehrenschutz begehrt und der
nicht die Wohltat einer parteiamtlichen Vertretung geniesst,
dazu kommt, die Kosten einer sechswöchigen Debatte, ob sie in
Prag oder in Leitmeritz angeführt wird, zu bezahlen, und zwar
selbst im Falle seines Obsiegens, da ja die Kosten wegen der
angegebenen Bedürftigkeit des Angeklagten uneinbringlich wären.
Wenn der Delegierungsantrag des Angeklagten überhaupt einen
anderen Sinn hat als den der Sabotage, so lediglich den, das
ihm offenbar angenehmere Gericht in Leitmeritz, das er selbst
vorschlägt, über seine Straftat urteilen zu lassen, (weil er
– gewiss unbegründeterweise – bei diesem Gericht entweder eine
günstigere Einstellung für ihn als Sozialdemokraten oder eine
gegen den Privatkläger vorhandene Einstellung als dem Bekämpfer
alldeutschen und hitlerdeutschen Wesens erwartet.)


Man kann keinesfalls die Ansicht vertreten,
dass die im § 62 St.P.O. als Voraussetzung für die Delegierung
ausgestellten wichtigen Gründe vorliegen, wenn es sich darum
handelt, die Durchführung von Beweisen zu erleichtern, die für
die Entscheidung des Straffalles nicht nur ohne eine Spur von
Belang sind, sondern im Gegenteil ihn verwirren. Denn es soll
nicht der moralische Beweggrund der Widersprüche, sondern es sol
len die Widersprüche selbst bewiesen werden, die das Gericht
nicht im geringsten interessieren. Wie absurd eine Beweisauf
nahme aber die „Widersprüche“ der Fackel wäre, geht schon aus
dem Umstand hervor, dass das Thema eben dieser „Widersprüche“
seit jeher ein Hauptmotiv der Fackel bildet. Es gibt sogar ein
eigenes Buch des Privatklägers, das den Titel führt „Sprücheund Widersprüche“. Die Dummheit und Schlechtigkeit dieses Vor
wurfs wird seit Jahrzehnten mit dem vollen Bewusstsein der
scheinbaren Widersprüche, deren gemeinsame geistige und morali
sche Wurzel der flache Leser nicht erkennt, stigmatisiert,
und gerade das Hereinziehen der „Widersprüche“ in das Prozess
thema beweist den Trick der gegnerischen Prozess
führung, die klare Absicht, diesen Prozess ad kalendas graecas
hinauszuschieben. Hiefür existiert aber ein geradezu schlagen
der Beweis. Was nämlich von den Werken des Klägers einzig zu
übersetzen wäre und die Uebersetzung für den Gerichtszweck
lohnte, ist ausser den sich durch Jahre erstreckenden zahllosen
vehementen Satiren gegen die heillose Haltung der österreichi
schen Parteigenossen des Angeklagten der 31 Seiten umfassende
Artikel aus dem Fackelheft vom Oktober 1932, „Hüben und Drüben“,
in dem die Haltung erschöpfend dargestellt wird. Dieser Artikel hat das Blatt des Angeklagten nicht gehindert, die Person
des Privatklägers bei seinen wiederholten Vorlesungen in Prag
in der enthusiastischesten Weise zu feiern, (was gewiss ein
grösserer Widerspruch im Verhältnis zu seinem heutigen Betragen
ist, als die angeblichen Widersprüche des Privatklägers, als
seine angeblich verschiedenen Haltungen gegenüber der öster
reichischen Sozialdemokratie). Aber mehr als das. Das Blatt desAngeklagten hat zweieinhalb Monate nach dem tragischen Februar
ereignisse, das der Privatkläger ausschliesslich aus dem tief-
sten Mitgefühl mit der armen Arbeiterschaft beurteilt hat,
als dem Opfer gewissenloser Führer, Politiker und Journalisten,
die sie nutzlos, aussichtslos und auf die Gefahr einer mittel
europäischen Katastrophe just in den Tagen, da Dollfuss in der
furchtbarsten Notwehr gegen die einbrechenden Hitlerhorden
stand, geopfert haben, um sich selbst in (eine selbstverständlich
und ausdrücklich vergönnte) Sicherheit zu bringen, – das Blattdes Angeklagten hat also zweieinhalb Monate nach dem Ereignisse
in der zeugenmässig nachweisbaren vollen Kenntnis der Ansich
ten des Privatklägers (die er in Prag Parteigenossen des Angeklagten und anderen Politikern gegenüber vertrat), einen
wahren Hymnus zu dessen 60. Geburtstag veröffentlicht. Dieses
Faktum bildete nicht nur an und für sich einen Widerspruch,
der weit grösser ist als der dem Privatkläger vorgeworfene,
sondern der Aufsatz enthält geradezu eine sensationelle Ue
berführung der Verlogenheit dieser Prozessführung. Er ent
hält nämlich in der Spalte … nichts geringeres als eine
verächtliche Abfertigung jener Sorte von Leuten, die dem
Herausgeber der Fackel Widersprüche vorwerfen. Das Blatt schreibt:
„Es ist der kleinliche Trick seiner Feinde, ihm seine Wider
sprüche vorzuhalten. Es trifft ihn nicht, so wenig wie der
andere Vorwurf der Eitelkeit, mit dem sich die Eitelsten an ihm
zu rächen suchen:


Wo Leben sie der Lüge unterjochten,
war ich Revolutionär.
Wo gegen Natur sie auf Normen pochten,
war ich Revolutionär.
Mit lebendig Leidenden hab ich gelitten.


Wo Freiheit sie für die Phrase nutzten,
war ich Reaktionär.
Wo Kunst sie mit ihrem Können beschmutzten,
war ich Reaktionär.
Ich bin zum Ursprung zurückgeschritten.“


Hier, in diesem Gedicht – und es führt
den Titel „Mein Widerspruch“ – ist gerade aus den ersten Zeilen
der zweiten Strophe „ Wo Freiheit sie für die Phrase nutzten,
war ich Reaktionär“ die ganze Rechtfertigung der Brandmarkung
eines politischen Treibens enthalten, das parasitär an der
Freiheit schmarotzt, und eben die Freiheit durch ihre halb
schlächtige Haltung einem Hitler preisgegeben hat. Dies, eben
dies, und nichts anderes ist der Inhalt jener Seiten 170–315
des Aufsatzes vom Juli 1934, die die Journalistik von der
Sorte des Angeklagten in Wallung gebracht haben und zu dem
Widerspruch, den hundertmal Gepriesenen zu schmähen. Zahllose
Male wird in diesem Aufsatz selbst auf das unsinnige Motiv von den
Widersprüchen hingewiesen, und kein Gedankengang ist in ihm
enthalten, der das Blatt des Angeklagten jemals verhindert
hat, dem Autor zu huldigen und mit dem insbesondere der Autor
des Artikels vom 28. April 1934, Herr Dr. Emil Franzel, nicht
in zahllosen Gesprächen mit Begeisterung einverstanden gewesen
wäre. Nach all dem Ausgeführten könnte es sich also einzig nur
darum handeln, irgend welchen, wenn auch nur den allergering
fügigsten unsauberen Beweggrund für Ansichten, frühere oder
spätere, die miteinander in äusserem oder angeblichem Wider
spruch stehen, vor Gericht nachzuweisen. Alles andere ist eine
geistige Debatte, die in ihrer unerträglichen Ausdehnung nicht
einmal vor einem aussergerichtlichen Forum vorstellbar wäre.
Wenn nicht sogar die Abweisung eines solchen Ansinnens an die
Justiz, die leider schon eine gewisse Ausführlichkeit erfordert,
eine arge Zumutung an die Geduld der Richter bedeutete, so
müsste man gleich in dieser Darlegung auf das Absurdum ein
gehen, dass der Widerspruch als solcher eine Ehrenminderung
bedeute t n soll . Vielleicht genügt es aber, die ganze Torheit oder
Unlauterkeit dieses Gedankens an der krassesten Vorbringung
des Angeklagten zu demonstrieren. Er findet ein Gravamen darin,
dass derselbe Autor, der einen vehementen Kampf gegen den ehe
maligen Wiener Polizeigewaltigen Schober geführt hat, das Juliheft der Fackel schreiben konnte, welches eine Würdigung des
von Nationalsozialisten ermordeten Bundeskanzlers Dollfuss ent
hält. Ganz abgesehen davon, dass Schober erweislicher und er-
wiesener Massen ein Schrittmacher der Nazibewegung in
Oesterreich war, wäre zu sagen und zu bekennen: der Privatkläger hätte, wenn eben dieser Schober an Dollfuss’ Stelle
den furchtbaren Notwehrkampf gegen die Hitlergefahr zu führen
gehabt hätte und ihn auch nur mit einem Teilchen von dessen
Energie geführt hätte, selbst dem Schober des 15. Juli 1927
den Vorzug vor einem in Oesterreich herrschenden Hitler ge
geben, seinen Kampf gegen diese Gefahr, die nicht nur
Oesterreich sondern ganz Mitteleuropa bedroht, unterstützt,
und eine verblendete österreichische Sozialdemokratie, die
ihm dabei in den Rücken gefallen wäre, ganz so gebrandmarkt,
wie es im Juliheft 1934 geschehen ist. In dieser Ansicht weiss
er sich eins mit den vernünftigen Politikern in der Tschecho
slovakei, die längst erkannt haben, dass diese Abwehr auch
das vitale Interesse ihres Staates ist. Es wäre, wenn wegen
solcher Angelegenheiten eine Beweisführung zugelassen würde,
nachzuweisen, dass nach dem Februarereignisse der tschecho
slovakische politische Schriftsteller Peroutka in Prag nach
den mündlichen Darlegungen des Privatklägers, die den gleichen
Inhalt hatten wie das Juliheft 1934 der Fackel, von diesem ihm
völlig überzeugt, zu einer Zeit, wo noch völlige Verwirrung
in der Beurteilung der österreichischen Vorgänge herrschte,
das Wort gebraucht hat: „Da sieht man, der Dichter ist der
einzige Realpolitiker “, und dass am Schlusse derselben De
batte Carel Capek die Worte gesprochen hat: „Man wird Ihnen
Widersprüche vorwerfen, aber der Widerspruch ist in denen,
die Ihnen diesen Vorwurf machen. “ Wenn man nun aber sogar
bereit wäre, sich zu all diesen Widersprüchen und noch viel
mehr zu bekennen, wozu bedürfte es der Vorbringung eines
Materials, das diese Widersprüche sichtbar macht, solange
deren Motive nicht als unehrenhaft nachgewiesen werden können?
Kein Gericht kann die Richtigkeit der jeweiligen Ansicht über-
prüfen, nur deren Echtbürtigkeit (Wahrhaftigkeit) und Lauter
keit, solange ein etwa bestehender Verdachtsgrund nicht durch
Beweise erhärtet wird. Keinen dieser Widersprüche würde der
Privatkläger und vor keiner Macht der Welt zurücknehmen, zu
jeder Meinung, die sich aus einer unbeeinflussten und unbe
einflussbaren Betrachtung der jeweiligen Zeitumstände ergibt
und die sich für den oberflächlichen Betrachter ändern kann,
wie sich die Zeitumstände ändern, bekennt er sich nach wie vor,
heute und immer, die Wurzel seiner Betrachtung ist dieselbe
geblieben, er vermag nicht einmal die Hoffnung auf einen
Sozialismus zurückzunehmen, die er gehegt hat, weil sich die
österreichische Sozialdemokratie gegen die Greuel des Weltkrieges
schließlich mit Mut gestellt hat, denn diese Ansicht und Hoffnung war da
mals berechtigt. Wogegen er sich durchgehend und konsequent
wehrt, ist, dass gegen ihn Meinungsexekutoren auftreten, die
im Namen der Freiheit Gewalt anwenden.


Was das Wesentliche dieses Prozesses bil
det, wie die inkriminierten Beleidigungen gemeint waren und
welcher Wahrheitsbeweis zu führen wäre, wird noch anschaulicher
durch eine abermalige Beleidigung des Blattes gegen den Privatkläger in der Nummer vom 30. November 1935. Von ihm wird dort
direkt ausgesagt, dass er das traurige Beispiel des moralischen
Verfalls hinterlasse. Der Täter wird sich für diese und andere
Beleidigungen der Notiz zu verantworten haben. Die Notiz
zeigt deutlich, dass dem Privatkläger auch in dem inkriminiertenfrüheren Aufsatz Unmoralität vorgeworfen werden sollte. Eben
diese Unmoralität und sonst nichts hätte der Angeklagte auch
in dem vorliegenden Prozess zu beweisen. Es ist schlechthin
unvorstellbar, dass ein Gericht darüber zu urteilen hätte, ob
eins angebliche Meinungsänderung gegenüber einer Partei oder
einer Person, welche doch den reinsten Motiven entsprungen
sein kann, demjenigen, über den man die Meinung geändert hat,
zur Beleidigung der Ehre das Recht gäbe. Wollte man diesen den
Prozess auf dieses abseitige Terrain führen und in diesem
Ausmasse durchführen, so müsste, abgesehen von der Tatsache
der angeblichen Meinungsänderung, auch der ungeheure Beweis
durchgeführt werden, in welcher Art sich die Partei in kri
tischen Augenblicken verhalten hat. Einem solchen Beweis
steht aber ein Gerichtsverfahren niemals offen.


Alles in allem muss also gesagt werden,
dass es sich ganz und gar nicht um einen „wichtigen Grund“
handelt, aus welchem nach der Vorschrift des § 62 St.P.O.
eine prozessuale Ausnahmsverfügung erfolgen darf. Der Privatkläger beantragt daher:


das löbliche Obergericht in Prag möge unter ausdrücklichem
Hinweis auf die Ueberflüssigkeit der Beweisaufnahme über eine
Meinungsänderung, solange nicht Beweise für deren Unlauter
keit angeboten werden, über den Antrag der Verteidigung in
der Weise beschliessen, dass die anhängige Strafsache dem
zuständigen Gerichte in Prag nicht abzunehmen und keinem
anderen Gerichte zuzuweisen ist.