Prager Tagblatt, 1.5.1936Prozeß Karl Kraus – „Sozialdemokrat“ [1.5.1936]Brief ans „Prager Tagblatt“. Karl Kraus und das österreichische Regime„Presseberichtigung“Prager Tagblatt, 17.5.1936Prager Tagblatt, 5.5.1936Die Fackel


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Sehr geehrter Herr!


Der Zeitersparnis wegen wende ich mich an Stelle des
Herrn Dr. Johann Turnovsky in Prag als der ständige Wiener Anwalt
des Herrn Karl Kraus, Herausgebers der ‚Fackel‘, an Sie, um Sie
über die Irrtümer in Ihrer Veröffentlichung vom 17. Mai aufzu
klären. Gewiß waren Sie „durch keine preßgesetzliche Norm gezwun
gen“, die Ihnen eingesandte Erklärung zu drucken, da es sich ja
um keine Berichtigung nach § 11 gehandelt hat und handeln konnte.
Nicht einmal eine strafgesetzliche Norm, nämlich die des Paragraphen gegen Ehrenbeleidigung, hat Sie zur Veröffentlichung ge
zwungen, wenn Sie eine Klage gemäß diesem Gesetz riskieren woll
ten. Da Sie nicht gezwungen waren, so waren Sie auch zunächst be
rechtigt, eine Stelle auszulassen, wenngleich Sie zur Orientie
rung des Lesers nach dem Bekenntnis dieser Auslassung vielleicht
durch Punkte oder Striche, die dem Fragment voranzusetzen waren,
dem „Anschein“ hätten begegnen sollen, als ob innerhalb des Ge
druckten etwas gestrichen wäre. Durch keine preßgesetzliche Norm
waren Sie aber vor allem gezwungen, die Berichtigung des HerrnDr. Schwelb zu drucken, welche geradezu das Schulbeispiel der Ge
setzwidrigkeit vorstellt. Richtig ist, daß Sie sie drucken wollten
und ohne besondere juridische Erwägung gedruckt haben, um Herrn
Dr. Schwelb, wie schon mit dem Bericht, den er durch das Tsche
choslowakische Preßbüro versenden ließ, noch einmal und umso mehr
Gelegenheit zu geben, die Version, sein Klient sei nach einem
Wahrheitsbeweis und nicht wegen einer Formalität, die er zuhilfe
nahm, freigesprochen worden, in Umlauf zu bringen. Ja, Herr KarlKraus vermutet, daß Sie seine Berichtigung, die zwar die Wahr
heit sagte, aber eine, die sich nicht dem § 11 anpassen ließ,
nach ursprünglicher Ablehnung gebracht haben, weil Herr Dr. Schwelb
diese Gelegenheit zu jenem Zweck besonders geeignet fand. Daß Sie
die Gegenberichtigung nicht mit dem Zusatz versahen, Sie seien
durch keine preßgesetzliche Norm zur Veröffentlichung gezwungen,
mit einem Zusatz, den Sie doch zweimal dem Abdruck wahren Sach
verhalts nicht erspart haben, war vielleicht ein Regiefehler. Die
Auslassung der einleitenden Sätze der Ihnen zuletzt gesandten Er
klärung beweist vollends, daß nicht Respekt vor einer angeblichen
Norm, sondern die Bereitwilligkeit, dem Plan des ‚Sozialdemokrat
und seines Vertreters beizustehen, den Beweggrund Ihres Druckens
wie Nachdruckens gebildet hat. Das gehört freilich in das Gebiet
Ihrer redaktionellen Erwägungen wie gewiß auch der Umstand, daß
Sie von keinem der vielen erfolgreichen Prozesse, die mein Klient
in Prag geführt hat, Notiz genommen haben, etwa von der Verurtei
lung des Herrn Dr. Schwelb selbst wegen einer unqualifizierbaren
Beschimpfung meines Klienten zu drei Tagen Arrests mit einem Fast
tag, wenngleich bedingt, so doch interessant. Aber daß Sie so be
reitwillig unrichtige Notiz nahmen von einem für meinen Klienten
schlechten Ausgang und sich mit allen Mitteln wehren, dessen Ur
sache klarzustellen, steht doch in starkem Widerspruch zu der
Hochachtung, die Sie ihm noch zu einer Zeit entgegenbrachten, da
Sie längst wußten, daß sie nicht auf Gegenseitigkeit beruhe. Nun
mehr machen Sie sich nichts daraus den sensationelleren Teil der
„Erklärung“ auf sich zu nehmen, wiewohl darin, juristisch be
trachtet, „Beleidigungen dritter Personen“ enthalten sind, wie
Reinhardts, Hitlers, Schobers, Bekessys und vor allem der Führer
der österreichischen Sozialdemokratie. Aber zur Veröffentlichung
„jener Stellen, die dritten Personen den Anlaß zu einer Ehrenbe
leidigungsklage gegen das ‚Prager Tagblatt‘ geben könnten“, füh
len Sie sich weder gezwungen noch geneigt. Es kommt nur eine ein
zige Stelle in Betracht und eine einzige dritte Person, welcher
die Stelle wohl unerwünscht wäre, aber nie den Anlaß zu einer
Ehrenbeleidigungsklage gegen Sie bieten könnte: Herr Dr. Schwelb.
Ich garantiere Ihnen mit meiner strafrechtlichen Erfahrung, daß
Sie nicht den geringsten Grund haben, eine Verfolgung von dieser
Seite wegen Abdrucks jener Stelle zu befürchten. Denn „der durch
die Berichtigung des Herrn Dr. Schwelb bewirkte An
schein“ ist objektiv keine Beleidigung, und wenn er selbst stär
ker bezeichnet und auf seine Absicht zurückgeführt wäre, mit dem
ganzen aktenmäßigen Sachverhalt, mit dem wir Ihnen erforderlichen
falls als Zeugen zur Verfügung stünden, nachweisbar. Der ‚Sozialdemokrat‘ hat zwar dem groß angekündigten Wahrheitsbeweis, den er
führen wollte, den übel angewandten § 18 vorgezogen, aber daß er,
über die Berichte und Berichtigungen, die er Ihnen zumutet, hinaus
noch Lust hätte, mit solcher Ausflucht in einer hoffnungslosen
Gerichtsverhandlung zu renommieren, ist unvorstellbar. Ich zweifle
nicht, daß Sie das genau so gut wissen wie wir, aber Sie geben dem
„Anschein“ Raum, als ob Sie eine Klage des Herrn Dr. Schwelb mehr
fürchten müßten als eine des Herrn Karl Kraus. Stünden Sie wirk
lich vor dieser Wahl, so gebe ich Ihnen als Jurist zu bedenken,
daß die Stelle, die Sie ausgelassen haben, von keiner Instanz als
Beleidigung erkannt würde, weit eher schon die Auslassung, nämlich
als die Tatsache, daß Sie sich – und dies allein war ein Grund,
die durchaus ungesetzliche Berichtigung abzulehnen – die Version
zu eigen gemacht und verbreitet haben, als ob irgendeine Spur von
Beweis zum Freispruch des ‚Sozialdemokrat‘ auch nur das Geringste
beigetragen hätte. Herr Karl Kraus mag erklären und Sie erklären
lassen, wie er zur Prozeßmaterie steht – daß im „Materiellen“ gegen
ihn entschieden wurde, soll nicht mehr aus der Vorstellung Ihrer
Leser entfernt werden. Hätte nach Bericht und Berichtigung noch
ein Zweifel bestanden, ob die Vorbringung solcher Unwahrhaftigkeit
eine Beleidigung wäre, so kann er nach Ihrer Auslassung nicht
mehr bestehen; denn wenn der „Anschein“ Herrn Dr. Schwelb belei
digt, so beleidigt dessen Inhalt Herrn Kraus umsomehr, und durch
die Streichung der Wahrheit tun Sie zum dritten Mal dar, daß Sie
der Tendenz der Vernebelung zu Hilfe kommen. Ich aber stelle zum
letzten Mal die Sache vor Ihr publizistisches Gewissen und forde
re Sie auf, die Anerkennung der Wahrheit, die sich gegenüber der
Technik des Tonfalls wirklich durch keine preßgesetzliche Norm
erzwingen ließe, aus freiem Willen vorzunehmen.


Mit vorzüglicher Hochachtung


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Karl Kraus und das österreichische Regime


Zu der in der Nr. vom 17. Mai unter diesem Titel veröffentlichten Erklärung teilen wir ergänzend mit:


Wir haben in der Nummer 105 vom 5. Mai 1936 eine
„Presseberichtigung“ des Herrn Dr. Schwelb als rechtsfreund
lichen Vertreters des verantwortlichen Redakteurs des
Sozialdemokrat‘, Dr. Emil Strauss, veröffentlicht. Diese
Presseberichtigung“ richtet sich gegen die unter dem Titel
Prozess Karl Kraus – ‚Sozialdemokrat‘“ im ‚Prager Tagblatt‘vom 1. Mai 1936, Nr. 103, veröffentlichte Nachricht. Wir ha
ben uns überzeugt, daß die Behauptung des Herrn Karl Kraus
wahr ist, der verantwortliche Redakteur des ‚Sozialdemokrat‘
sei aus einem formalen Grunde freigesprochen worden, und daß
der „Grund des materiellen Strafrechtes“, auf den sich Herr
Dr. Schwelb beruft (§ 18 des Ehrenschutzgesetzes), eben die
Unterlassung der Formalität bedeutet, sich bei der Annahme
einer Ehrenerklärung in einem anderen Prozeß die Verfolgung
für das schwebende Verfahren vorzubehalten. Wir haben uns
überzeugt, daß der durch die Berichtigung des Herrn Dr. Schwelb
bewirkte Anschein, als ob der Wahrheitsbeweis, der allerdings
„angetreten“ wurde, auch tatsächlich erbracht worden wäre und
als ob dies zu dem Freispruch irgend etwas beigetragen hätte,
dem Sachverhalt widerspricht.


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