Sehr geehrter Herr!
Der Zeitersparnis wegen
wende ich mich an Stelle des
Herrn Dr. Johann
Turnovsky in Prag als der ständige Wiener
Anwalt
des Herrn Karl Kraus,
Herausgebers der ‚Fackel‘, an Sie,
um Sie
über die Irrtümer in
Ihrer Veröffentlichung vom 17. Mai
aufzu
klären.
Gewiß waren Sie „durch keine preßgesetzliche
Norm gezwun
gen“, die Ihnen eingesandte Erklärung zu drucken, da es sich ja
um keine Berichtigung nach
§ 11 gehandelt hat und handeln konnte.
Nicht einmal eine
strafgesetzliche Norm, nämlich die des Paragraphen gegen
Ehrenbeleidigung, hat Sie zur Veröffentlichung ge
zwungen, wenn Sie eine Klage
gemäß diesem Gesetz riskieren woll
ten. Da Sie nicht gezwungen
waren, so waren Sie auch zunächst be
rechtigt, eine Stelle
auszulassen, wenngleich Sie zur Orientie
rung des Lesers nach dem
Bekenntnis dieser Auslassung vielleicht
durch Punkte oder Striche,
die dem Fragment voranzusetzen waren,
dem „Anschein“ hätten
begegnen sollen, als ob innerhalb des Ge
druckten etwas gestrichen
wäre. Durch keine preßgesetzliche Norm
waren Sie aber vor allem
gezwungen, die Berichtigung des HerrnDr. Schwelb zu drucken, welche geradezu das
Schulbeispiel der Ge
setzwidrigkeit vorstellt.
Richtig ist, daß Sie sie drucken wollten
und ohne besondere
juridische Erwägung gedruckt haben, um Herrn
Dr. Schwelb, wie schon mit dem Bericht, den er durch das
Tsche
choslowakische Preßbüro versenden ließ, noch einmal und umso mehr
Gelegenheit zu geben, die
Version, sein Klient sei nach einem
Wahrheitsbeweis und nicht
wegen einer Formalität, die er zuhilfe
nahm, freigesprochen worden,
in Umlauf zu bringen. Ja, Herr KarlKraus vermutet, daß Sie seine
Berichtigung, die zwar die Wahr
heit sagte, aber
eine, die sich nicht dem § 11 anpassen ließ,
nach ursprünglicher
Ablehnung gebracht haben, weil Herr Dr. Schwelb
diese Gelegenheit zu jenem
Zweck besonders geeignet fand. Daß Sie
die Gegenberichtigung nicht mit dem Zusatz versahen,
Sie seien
durch keine
preßgesetzliche Norm zur Veröffentlichung gezwungen,
mit einem Zusatz, den Sie
doch zweimal dem Abdruck wahren Sach
verhalts nicht erspart
haben, war vielleicht ein Regiefehler. Die
Auslassung der einleitenden
Sätze der Ihnen zuletzt gesandten Er
klärung beweist vollends,
daß nicht Respekt vor einer angeblichen
Norm, sondern die
Bereitwilligkeit, dem Plan des ‚Sozialdemokrat‘
und
seines Vertreters beizustehen, den Beweggrund Ihres Druckens
wie Nachdruckens gebildet
hat. Das gehört freilich in das Gebiet
Ihrer redaktionellen
Erwägungen wie gewiß auch der Umstand, daß
Sie von keinem der vielen
erfolgreichen Prozesse, die mein Klient
in Prag geführt hat, Notiz genommen haben, etwa von der
Verurtei
lung
des Herrn Dr. Schwelb selbst wegen einer
unqualifizierbaren
Beschimpfung meines Klienten zu drei Tagen Arrests mit einem Fast
tag, wenngleich bedingt, so
doch interessant. Aber daß Sie so be
reitwillig unrichtige Notiz
nahmen von einem für meinen Klienten
schlechten Ausgang und sich
mit allen Mitteln wehren, dessen Ur
sache klarzustellen, steht
doch in starkem Widerspruch zu der
Hochachtung, die Sie ihm
noch zu einer Zeit entgegenbrachten, da
Sie längst wußten, daß sie
nicht auf Gegenseitigkeit beruhe. Nun
mehr machen Sie sich nichts
daraus den sensationelleren Teil der
„Erklärung“ auf sich zu
nehmen, wiewohl darin, juristisch be
trachtet, „Beleidigungen
dritter Personen“ enthalten sind, wie
Reinhardts, Hitlers, Schobers, Bekessys und vor allem der Führer
der österreichischen
Sozialdemokratie. Aber zur Veröffentlichung
„jener Stellen, die dritten
Personen den Anlaß zu einer Ehrenbe
leidigungsklage gegen
das ‚Prager Tagblatt‘ geben könnten“, füh
len
Sie sich weder gezwungen noch geneigt. Es kommt nur eine ein
zige Stelle in Betracht und
eine einzige dritte Person, welcher
die Stelle wohl unerwünscht
wäre, aber nie den Anlaß zu einer
Ehrenbeleidigungsklage gegen
Sie bieten könnte: Herr Dr. Schwelb.
Ich garantiere Ihnen mit
meiner strafrechtlichen Erfahrung, daß
Sie nicht den geringsten
Grund haben, eine Verfolgung von dieser
Seite wegen Abdrucks jener
Stelle zu befürchten. Denn „der durch
die Berichtigung des Herrn Dr.
Schwelb
bewirkte An
schein“
ist objektiv keine Beleidigung, und wenn er selbst stär
ker bezeichnet und auf seine
Absicht zurückgeführt wäre, mit dem
ganzen aktenmäßigen
Sachverhalt, mit dem wir Ihnen erforderlichen
falls als Zeugen zur
Verfügung stünden, nachweisbar. Der ‚Sozialdemokrat‘ hat zwar dem groß angekündigten Wahrheitsbeweis, den er
führen wollte, den übel
angewandten § 18 vorgezogen, aber daß er,
über die Berichte und
Berichtigungen, die er Ihnen zumutet, hinaus
noch Lust hätte, mit solcher
Ausflucht in einer hoffnungslosen
Gerichtsverhandlung zu
renommieren, ist unvorstellbar. Ich zweifle
nicht, daß Sie das genau so
gut wissen wie wir, aber Sie geben dem
„Anschein“ Raum, als
ob Sie eine Klage des Herrn Dr. Schwelb mehr
fürchten müßten als eine des
Herrn Karl
Kraus. Stünden Sie wirk
lich vor dieser Wahl, so
gebe ich Ihnen als Jurist zu bedenken,
daß die Stelle, die Sie
ausgelassen haben, von keiner Instanz als
Beleidigung erkannt würde,
weit eher schon die Auslassung, nämlich
als die Tatsache, daß Sie
sich – und dies allein war ein Grund,
die durchaus ungesetzliche
Berichtigung abzulehnen – die Version
zu eigen gemacht und
verbreitet haben, als ob irgendeine Spur von
Beweis zum Freispruch des
‚Sozialdemokrat‘ auch nur das
Geringste
beigetragen
hätte. Herr Karl
Kraus mag erklären und Sie erklären
lassen, wie er zur
Prozeßmaterie steht – daß im „Materiellen“ gegen
ihn entschieden wurde, soll
nicht mehr aus der Vorstellung Ihrer
Leser entfernt werden. Hätte
nach Bericht und Berichtigung noch
ein Zweifel bestanden, ob
die Vorbringung solcher Unwahrhaftigkeit
eine Beleidigung wäre, so
kann er nach Ihrer Auslassung nicht
mehr bestehen; denn wenn der
„Anschein“ Herrn Dr. Schwelb
belei
digt, so
beleidigt dessen Inhalt Herrn Kraus umsomehr, und durch
die Streichung der Wahrheit
tun Sie zum dritten Mal dar, daß Sie
der Tendenz der Vernebelung
zu Hilfe kommen. Ich aber stelle zum
letzten Mal die Sache vor
Ihr publizistisches Gewissen und forde
re Sie auf, die Anerkennung
der Wahrheit, die sich gegenüber der
Technik des Tonfalls
wirklich durch keine preßgesetzliche Norm
erzwingen ließe, aus freiem
Willen vorzunehmen.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Karl Kraus
und das österreichische Regime
Zu der in der Nr. vom 17. Mai
unter diesem Titel veröffentlichten
Erklärung teilen wir ergänzend mit:
Wir haben in der Nummer 105 vom 5. Mai 1936 eine
„Presseberichtigung“ des Herrn Dr.
Schwelb als rechtsfreund
lichen Vertreters des
verantwortlichen Redakteurs des
‚Sozialdemokrat‘, Dr. Emil Strauss,
veröffentlicht. Diese
„Presseberichtigung“ richtet sich
gegen die unter dem Titel
„Prozess Karl Kraus
– ‚Sozialdemokrat‘“ im ‚Prager Tagblatt‘vom 1. Mai 1936, Nr.
103, veröffentlichte Nachricht. Wir ha
ben uns überzeugt, daß die
Behauptung des Herrn Karl Kraus
wahr ist, der verantwortliche
Redakteur des ‚Sozialdemokrat‘
sei aus einem formalen Grunde freigesprochen worden, und daß
der „Grund des materiellen Strafrechtes“, auf den sich
Herr
Dr. Schwelb beruft (§ 18 des
Ehrenschutzgesetzes), eben die
Unterlassung der Formalität
bedeutet, sich bei der Annahme
einer Ehrenerklärung in einem anderen Prozeß die Verfolgung
für das schwebende Verfahren
vorzubehalten. Wir haben uns
überzeugt, daß der durch die Berichtigung des Herrn Dr. Schwelb
bewirkte Anschein, als ob
der Wahrheitsbeweis, der allerdings
„angetreten“ wurde, auch tatsächlich erbracht worden wäre
und
als ob dies zu dem
Freispruch irgend etwas beigetragen hätte,
dem Sachverhalt
widerspricht.