Der Aufruf, 1.11.1933Prager TagblattKarl Kraus’ Abschied? [1.11.1933]Die Fackel schweltDie Fackel


Entwurf eines Schriftsatzes in der Angelegenheit
KrausAufruf.


Da nunmehr die Uebersetzung des inkri
minierten Artikels des ErstangeklagtenDie Fackel schwelt
dem Auftrage gemäss vorgelegt ist, obliegt es dem Privatankläger zu dem von den Angeklagten kurz vor der letzten Haupt
verhandlung eingebrachten Schriftsatz Stellung zu nehmen.
Selbstverständlich kann es nicht Zweck dieses Schriftsatzes
sein, sich mit der Meinung der Angeklagten polemisch ausein
anderzusetzen. Für das gemeingefährliche Walten der Journalistik
gibt es leider noch kein Forum, das ihre Verantwortlichkeit fest
stellen und sie zur Rechenschaft ziehen könnte. Schon die Meinung
von Journalisten, auch wenn sie nicht beleidigende Formen an
nimmt, kann ja gemeinschädlich sein. Die Angeklagten haben sich
aber dafür zu verantworten, dass sie bei der Darstellung ihrer
Meinung Behauptungen aufgestellt haben, die die Ehre des Privatklägers angreifen; dafür müssen sie sich verantworten und dafür
müssen sie bestraft werden, wenn sie nicht die Wahrheit solcher
Behauptungen beweisen. Dieser Bestrafung können sie aber auch
dann nicht entgehen – sie erbrächten denn den Beweis der Wahr
heit ihrer Behauptungen –, wenn der inkriminierte Artikel wirk
lich „eine literarische Kritik“ darstellte, denn sie haben eben
die zulässigen Grenzen einer solchen literarischen Kritik über
schritten, wenn sie ihr einen beleidigenden Inhalt gaben, für
die sie den Wahrheitsbeweis nicht zu erbringen in der Lage sind.
Es kann wohl keinem Zweifel unterliegen, dass die Behauptungen:


1.) die Arbeit des Privatklägers zeige deutlich paranoische
Züge;


2.) der Privatkläger unterlasse die Polemik gegen das Hitler-
regime (was er nicht tut) nur deshalb, weil er an der Gefahr,
die sie für die in Deutschland Lebenden mit sich bringe be
teiligt, durch sie also mitgefährdet sei, behaupte jedoch, sie
zu unterlassen, um die Gefährdung der Anderen zu vermeiden,
diese Behauptung sei aber nur eine Ausrede, er sei also ein
Lump;


3.) der Privatkläger lehne es in massloser Selbstüberschätzung
ab, das zu tun, was andere tun, nämlich den von ihm selbst als
gerecht und notwendig erkannten Kampf gegen Hitler zu führen,
weil er seine Anhänger durch seinen originellen Standpunkt ver
blüffen wolle;


4.) der Privatkläger wolle durch längeres Nichterscheinen
seiner Zeitschrift „Die Fackel“ bei seinen Lesern eine erhöhte
Spannung und Neugierde hervorrufen, wodurch dann der Absatz der
Zeitschrift erhöht werde;


5.) der Privatkläger habe mit den rücksichtslosen Methoden des
Kapitalisten, nach Bankierart, mutwillig mit der tschechoslova
kischen Exekutivgewalt gedroht, um sein Recht durchzusetzen,
sich aber selbst strafbare Handlungen zuschulden kommen lassen,
in dem sicheren Gefühl, es könne ihm, da er inzwischen für
einen glühenden Feyanhänger(!) gehalten werde, nichts geschehen;


6.) der Privatkläger trete für die endgültige Beibehaltung
eines Zustandes ein, der immer wieder nur Qualen, Wildheit,
Unterdrückung produzieren könne, was keinem Ehrbaren gestattet
sei;


7.) der Privatkläger tue dies, weil er persönlich eine gesicher
te Stellung zu verlieren habe, er sei vom Glanz der siegreichen
Christenkanonen mürbe gemacht worden; –


es kann wohl keinem Zweifel unterliegen, dass diese Behauptungen
beleidigend sind und die Straflosigkeit der Beschuldigten nur
dann eintreten könnte, wenn sie die Wahrheit dieser Behauptun
gen bewiesen. Diesen Beweis müssten sie selbst dann erbringen,
wenn es wahr wäre, wie der Schriftsatz der Beschuldigten be
hauptet, dass der Privatkläger in seiner Abhandlung vom Juli1934 „in höchst beleidigender Weise demokratische und sozialisti
sche Schriftsteller angreift, ohne eine Menge von Ausfällen zu
vermeiden“. Diesen angegriffenen demokratischen und sozialisti
schen Schriftstellern steht kein anderes Recht zu, als den
Privatkläger wegen seiner bewusst beleidigenden Behauptungen
zu verklagen und seine Bestrafung durchzusetzen, wobei diesem
natürlich wieder das Recht offen stehen müsste, die Wahrheit
seiner Behauptungen zu beweisen. Gegen den Privatkläger wurde
aber in keinem einzigen Fall eine Privatklage von seiten der
demokratischen und sozialistischen Schriftsteller erhoben, ge
schweige denn, dass eine solche Anklage aus dem Grunde mit
einem Freispruch des Privatklägers enden würde, weil der öster
reichische Richter aus Parteilichkeit ein Gerichtsurteil zu
Gunsten des Privatklägers fällen würde. Die Angriffe des Privatklägers gegen demokratische und sozialistische Schriftsteller,
die übrigens seit vielen Jahren, vielfach seit jeher vom Privatkläger erhoben wurden und keine Enttäuschung oder gar Erregung
hervorrufen könnten, müssen also füglich bei der Beurteilung des
vorliegenden Falles ausser Betracht bleiben, und die Abhilfe,
die etwa von ihm Beleidigte sich verschaffen könnten, kann nicht
in der Veröffentlichung von Ehrenbeleidigungen mit unwahren Be
hauptungen liegen, sondern lediglich in der eigenen Anklage.
Vielleicht könnte man noch jene Art der Reaktion auf Beleidi
gungen gutheissen und als Milderungsgrund betrachten, wenn be-
reits einmal der vergebliche Versuch gemacht worden wäre, sich
gegen den Privatkläger in Oesterreich Recht zu verschaffen.
Solange aber dieser Versuch nicht unternommen worden ist, muss
die grundlose Verdächtigung des österreichischen Richters als
ein Bestreben aufgefasst werden, sich dem vom Privatkläger ge
führten Wahrheitsbeweis zu entziehen und vor der Oeffentlich
keit von den eigenen Handlungen abzulenken. All dies behielte
seine Geltung auch dann, wenn der Erstangeklagte persönlich
in der von ihm angegebenen Weise angegriffen worden wäre. Dies
ist aber keineswegs der Fall. Unter den demokratischen und
sozialistischen Schriftstellern, denen die Angriffe des Privatklägers im Juliheft 1934 der Fackel galten, wurde der Fall des
Erstangeklagten ganz besonders behandelt. Er hatte in der
Nummer vom 1.11.1933 in der Zeitschrift „Der Aufruf“ einen
recht naiven und etwas wirren Artikel unter dem Titel „KarlKraus’ Abschied?“ geschrieben, in dem er die müssige Frage er
örterte, ob das Schweigen des Privatklägers zu den Ereignissen
in Deutschland dadurch bewirkt worden sei, dass „die Resignation
in ein Herz eingezogen ist, das bisher nicht nur frei davon
war, sondern das alle Gegengifte der Resignation verbreitet und
gezüchtet“ habe oder ob es „ein Atemholen, ein Zusammenkauern vor
dem Ausschreiten“ sei. Er schloss seinen Gedankengang mit den
folgenden Worten: „Eine schwärende, stinkende Krankheit liegt
auf Europa. Es gibt einen Arzt, der im Besitze eines Instrumentes
ist um ihre Gehirnmetastase erfolgreich zu behandeln. Wir rufen
ihn. Es gibt eine geistige Kraft, die imstande ist die läppischen
Widersprüche teutonischen Wesens zu polemischer Schärfe zuzu
spitzen, die Untaten darzustellen und den Kern blosszulegen.
Wir brauchen diese Kraft, Karl Kraus, lassen Sie uns nicht im
Stich!“ Im Gegensatz zu anderen demokratischen und sozialisti
schen Schriftstellern, die sich publizistisch beleidigend ge
äussert haben, und Personen, die sich in lästigen Briefen an
den Verlag der Fackel gewendet haben, mit der Aufforderung, dass
ein Heft erscheinen möge oder mit dem Vorwurf, dass der Privatkläger Rücksicht zu nehmen habe, konnte damals dem Erstangeklagten noch zugebilligt werden und wurde ihm tatsächlich zugebilligt,
dass er nur geistig der Situation nicht gewachsen sei, die un
heilvolle Wirkung der Entgegenstellung des Wortes gegen die Ge
walt nicht durchdenken könne, nicht erfasste, dass man durch
die Behandlung ihres Falles die Opfer der Willkür nicht rette,
sondern den Umkreis des Verderbens erweitere, dass also der Ver
gleich mit einem Arzt, der eine schwärende und stinkende Krank
heit erfolgreich behandeln könne, zwar journalistisch ausgeführt
werden, aber vor der Wirklichkeit nicht standhalten könne. Die
se überaus glimpfliche Behandlung einer publizistischen Regung
vergilt nun der Erstangeklagte damit, dass er sich in die Reihe
derjenigen drängt, die den Privatkläger beleidigten und deswegen
zur Verantwortung gezogen werden mussten. Da aber die ihm wider
fahrene, fast mitleidige Behandlung seine beleidigenden Ausfälle
gegen den Privatkläger keinesfalls rechtfertigen, ja nicht ein
mal die Erregung begründet erscheinen lassen, auf die sich der
Erstangeklagte gleichfalls ausredet und die später besprochen
werden soll, so usurpiert er – vielleicht gerade aus gekränktem
Ehrgeiz – die Rolle der schwergetroffenen „demokratischen und
sozialistischen Schriftsteller“, gegen die sich die Angriffe des
Privatklägers im Juli-Heft der Fackel tatsächlich richteten. Er
zitiert im Schriftsatz eine grosse Anzahl von Worten aus diesen
Angriffen, verschweigt aber geflissentlich, dass sich diese An-
griffe überhaupt nicht mit seiner Person beschäftigen, sondern
mit anderen Personen respektive mit einem aus vielen Personen
konstruierten Typus, während gerade seine eigene Person selbstän
dig und erkennbar in der nachsichtigsten Weise behandelt wurde.
Denn alle diese vom Erstangeklagten zitierten Angriffe, auf die
auch noch in manchen Einzelheiten zurückgekommen werden muss,
richteten sich gegen den oben geschilderten Typus und dies wurde
auch ausdrücklich bemerkt. Auf Seite 39 des Juli-Heftes derFackel war einem fingierten lästigen Anfrager geantwortet:
„ Ausserdem verraten wir Ihnen, dass Sie gar nicht vorhanden
sind, sondern dass wir Sie uns als Extrakt aus solchen, die
gleichfalls nicht vorhanden sind, hergestellt haben, aus den
bescheidenen Fragern, kühneren Anzapfern, hauptsächlich aber
den Enttäuschten, die sich durch langjährigen falschen Gebrauch
einer Lektüre der Fackel berechtigt glauben, den, der nicht
Stellung nehmen will, zu stellen.“ Aus der selbständigen Be
handlung des Erstangeklagten gegenüber der allgemeinen Behandlung
des Typus, der jene zitierten Stellen entnommen sind, ergibt
sich die vollkommene Unrichtigkeit der Behauptung, der Erstangeklagte sei durch die von ihm zitierten Stellen betroffen. Ueber
dies sind diese Stellen, so wie sie zitiert werden, vollständ
lich unverständlich und, wenn das Gericht nicht das Juli-Heftder Fackel als Ganzes zu Gesicht bekommt, (zu dessen Vorlage
wohl nicht der Privatkläger verpflichtet ist, sondern die An
geklagten, die sich auf dieses Heft berufen), so kann es damit
gar nichts anfangen und insbesondere nicht ermessen, wie ab
grundtief der schmähliche Versuch der Angeklagten ist, das
Gericht von ihrer eigenen beleidigenden Tat abzulenken, und an
Stelle des Wahrheitsbeweises, zu dem sie verpflichtet wären, den
Beweis anzutreten, der Privatkläger habe „demokratische und
sozialistische Schriftsteller“ angegriffen, und sie seien
deshalb in einen Erregungszustand geraten. Der Privatkläger
hat in einer 36jährigen Tätigkeit zu wiederholten Malen den
Beweis erbracht, dass er zu seinem Worte steht und bereit ist,
die Verantwortung für alles zu übernehmen, was er geschrieben
hat. Diese Haltung ist zahllose Male eben von den demokrati
schen und sozialistischen Schriftstellern der Tschechoslovakei
in der rühmendsten Weise gewürdigt worden, vom Präsidenten derRepublik angefangen bis zu den bekanntesten und unbekanntesten
Autoren und Kritikern. Wer von den demokratischen und sozialisti
schen Schriftstellern durch seine Einbeziehung in den Typus
sich erkennbar beleidigt glaubt, hat das Recht, zu verlangen,
dass der ihm gemachte Vorwurf, die ihm angetane Beleidigung
vom Privatkläger verantwortet, dass der Beweis der Wahrheit für
die angetane Beleidigung erbracht werde. Der Privatkläger bekennt
sich vollständig zu der aggressiven Haltung gegen demokratische
und sozialistische Schriftsteller, soweit sie vermöge ihrer
politischen Einsichtslosigkeit in den von ihm aufgestellten
Typus einbeziehbar sind, und er glaubt noch grössere Nachsicht
mit ihnen geübt zu haben, wenn er nur ihre geistige und intel
lektuelle Kapazität anzweifelte, bei einer publizistischen
Haltung, die in ihrer Folge Menschenleben gekostet hat. Der
Privatkläger möchte am liebsten zu jeder der von den Angeklagten
zitierten Stellen die ganze umgebende Betrachtung zur Kenntnis
des Gerichtes bringen, weil dadurch auch der politische Gegen
satz zu dem allgemein Menschlichen, in welchen sich die ange
griffenen demokratischen und sozialistischen Schriftsteller aus
parteipolitischen Gründen gestellt haben, klar und offenbar
würde. Die Zitierung aller dieser Stellen mit ihrer Umgebung
würde aber einen Umfang von mehr als vierzig Seiten ausmachen,
welche Arbeit, noch dazu in Uebersetzung, dem Anwalt des Privatklägers wohl nicht zugemutet werden kann. Einige dieser Stellen
müssen aber doch herausgegriffen werden, weil sie zeigen, dass
die Angeklagten den Sinn dieser Angriffe entweder nicht ver
standen haben oder nicht verstehen wollten, oder dass sie in
Kenntnis des Umstandes, dass sich diese Stellen unmöglich auf
sie beziehen konnten, sie doch zu ihrer Verantwortung heranzogen
und, um den Schein solcher Möglichkeit zu wahren, sie falsch
zitierten. So zitieren die Angeklagten z.B. eine angebliche
Stelle von der Seite 24 des Juli-Heftes der Fackel: „Der
Plunder der Freiheit.“ Diese Stelle lautet aber: „ Denn ihr
Herausgeber hat, da ihm die Weltgeschichte zu dumm wurde …
es einfach uns überlassen, mit den gesinnungsgemässen Ansprüchen
einer Zeit fertig zu werden, die sich noch immer nicht als
Frist erkennen will; mit dem Plunder einer Freiheit, durch deren
Gunst das Leben so wohlfeil wurde wie das Denken.“ Es ist aus
der Gegenüberstellung ersichtlich, dass nicht, wie die Ange
klagten darstellen, die Freiheit ein Plunder genannt wurde,
sondern solche Freiheit, wie sie die angegriffenen Schrift
steller meinen, eine Freiheit, die das ganze Chaos der Gegen
wart verursacht hat und durch die Menschenleben und Kulturwerte
vernichtet oder aufs Spiel gesetzt wurden. Die Angeklagten zi
tieren von der Seite 49 des Juli-Heftes der Fackel die Worte:
„Prager Schmock.“ Da die Angeklagten in Prag ihren Wohnsitz
und Betätigungsort haben, muss beim Gericht der Anschein er
weckt werden, dass sich diese Beschimpfung auf den Erstangeklagten bezieht. Vollständig heisst das Zitat aber: „ Der als
Arnold‘ kämpfende Prager Schmock“, der Erstangeklagte konnte
es unmöglich auf sich beziehen, da ‚Arnold‘ das Pseudonym eines
anderen Autors ist, gegen den in jenem Heft polemisiert wurde;
er möchte es offenbar gerne dazu benützen, sich einen Ent
schuldigungsgrund zu schaffen, weshalb er sich gar nicht scheut,
es einfach zu verfälschen. Auch andere, von den Angeklagten
zitierten Stellen sind verfälscht oder entstellt wiedergegeben
worden. Da aber alle Stellen, aus dem Zusammenhang gerissen,
unverständlich sind und, wenn man einmal auf die einzelnen
Stellen einginge, zu jeder eine Erklärung zu geben wäre, die
das Ausmass der Stellen samt ihrer Umgebung in der Fackel um ein
Vielfaches übersteigen müsste; da überdies nachgewiesen wurde,
dass diese Stellen für den vorliegenden Prozess vollständig ohne
Bedeutung sind, muss die Erörterung über diesen Punkt abge
schlossen werden. Es muss den Angeklagten der Nachweis überlas
sen bleiben, dass sie durch diese Stellen getroffen werden
sollten, wo doch gerade der Fall des Erstangeklagten gesondert
auf den Seiten 65–67 des Juli-Heftes der Fackel behandelt wurde,
von welcher Behandlung die Verteidigung wohlweislich überhaupt
nichts erwähnt, weil es ihr nicht gelingen könnte, darin eine
Beleidigung des Erstangeklagten aufzuzeigen. Der Privatkläger
glaubt erwarten zu dürfen, dass die demokratischen und soziali
stischen Schriftstellern geltenden Angriffe, selbst wenn unter
ihnen „ein amtierender tschechischer Minister ist“ bei der Be
urteilung, ob die Angeklagten eine strafbare Handlung gegen den
Privatkläger begangen haben, von einem Gericht vollständig
ausser Betracht gelassen werden, das es den angegriffenen Schrift
stellern überlassen muss, sich ihr Recht zu suchen, was sie
bisher in keinem einzigen Fall getan haben. Die Verteidigungder Angeklagten meint, eine gründliche und richtige Beurteilung
des inkriminierten Artikels sei nur dann möglich, wenn das
Gericht den Inhalt und die Art jenes Artikels kenne, der den
Impuls zu den literarischen Angriffen auf Karl Kraus gegeben
habe, unter anderem auch zum Angriff des Erstangeklagten.
Damit hat sie natürlich, wenn auch im umgekehrten Sinne, recht.
Da sie aber selbst einsieht, dass ein solches Begehren un
möglich wäre (und sie jedenfalls nicht die Kosten in dem für
sie aussichtslosen Prozess aufwenden möchte), eine Uebersetzung
dieses umfangreichen Werkes herzustellen, möchte sie gerne,
dass dem Privatkläger der Auftrag erteilt werde, sich diese
Kosten zu machen und die Beweise, die die Beklagten zu führen
hätten, ihnen zur Verfügung zu stellen. Wenn die Angeklagten
aus diesem Heft selbst die Wahrheit ihrer Behauptungen zu er
weisen sich erbötig machten, was bisher aber nicht der Fall
gewesen ist, müssten sie selbst die Uebersetzung veranlassen,
bezahlen und dem Gericht vorlegen. Dem Privatkläger würde es
genügen, wenn die Angeklagten nur die Stellen seines Heftes so
ausführlich übersetzt vorlegten, die erforderlich sind, ihre
eigenen Behauptungen in dem Schriftsatz zu überprüfen. Sie
behaupten, dass die Mehrzahl der inkriminierten Stellen (in
der Klage sub 2, 3 und 4) nur Zitate der Aussprache des Privatklägers sind. Es wäre sehr wünschenswert, wenn die Angeklagten
wenigstens die drei Stellen des Heftes bezeichneten, die der
Erstangeklagte angeblich zitierte. In Wirklichkeit liegt der
Fall nämlich gerade umgekehrt. Der Erstangeklagte zitiert in
seinem Artikel keine Stellen der Fackel, deren Reproduktion
der Privatkläger absurder Weise dann unter Anklage stellen
würde, sondern er schliesst eben an ein Zitat aus der Fackel
beleidigende Behauptungen an, für die er den Wahrheitsbeweis
zu erbringen hat. Wenn an das Zitat der Fackel „ man kann ein
Lump sein, wenn man jemanden in Gefahr bringt“ angeschlossen
wird, „man könne ein Lump sein, wenn man jemanden vor einer
kleineren Gefahr bewahrt und in einer grösseren drinnen lässt,
weil man an der kleineren mitbeteiligt wäre und gleichzeitig
behauptet, man täte es nur seinetwegen“, so ist bei dem deut
lichen Hinweis, dass der Privatkläger so etwa tue, doch nur
dies Gegenstand des Prozesses und nicht etwa der Umstand, dass
die Behauptung an ein Zitat der Fackel sich anschliesst. Das
gleiche gilt für die Stellen 3 und 4 der Privatklage.


Es kann also keinem Zweifel unterliegen, dass alles
das von den Angeklagten Vorgebrachte mit dem Prozess nicht das
geringste zu tun hat, und alle vorgebrachten Argumente hinfällig
sind. Wenn sich die Angeklagten auf die Bestimmung des § 9Absatz 1 des Gesetzes über den Ehrenschutz berufen, so wäre zu
überprüfen, ob diese Bestimmung auf den vorliegenden Fall Anwen
dung zu finden hat. Der Privatkläger glaubt dies mit gutem
Grunde vermeinen zu können. Jene Bestimmung, die den Angeklag
ten zwar nicht den Freispruch, wohl aber die Straflosigkeit
sichert, setzt voraus, dass die beleidigende Handlung durch
unmittelbar vorangegangenes, herausforderndes und ärgerniserre
gendes Benehmen des Privatklägers veranlasst worden ist. Dieser
Paragraph hat seinen Vorgänger offenbar in dem des deutschen
Strafgesetzes, der eine ähnliche Rechtswohltat bei der Erwiderung
einer „Beleidigung auf der Stelle“ vorsieht. Es ist klar, dass
auch für die Anwendbarkeit des tschechischen Paragraphen er
forderlich ist, dass Beleidigung und Gegenbeleidigung unmittel
bar in einem Zusammenhang stehen, sozusagen in einem Akte er
ledigt werden. Bei einer Beleidigung durch die Presse kann
dies logischerweise überhaupt nie der Fall sein, da zur Be
gehung der Gegenbeleidigung eine Anzahl von Schritten notwendig
ist, nämlich die Verfassung der Gegenbeleidigung, deren Redaktion,
die Drucklegung und die Ueberprüfung durch den verantwortlichen
Redakteur. Schon der Begriff eines „verantwortlichen Redakteurs“
schliesst dieses Moment einer privaten Erregung aus, das etwa
in Betracht käme, wenn man einem, der seine Begleiterin beleidigt
hat, eine Ohrfeige versetzt. Von einer unmittelbaren Folge kann
also schon aus diesem Grunde nicht die Rede sein. Aber selbst
dann, wenn man die Anwendbarkeit des Paragraphen für Pressdelikte
nicht an und für sich ausschliesst, so wäre sie doch nur für
eine Tageszeitung gegeben, die innerhalb weniger Stunden auf
ein vorhergehendes Benehmen des Beleidigten reagiert, und der
man dann zubilligen könnte, dass die geforderte Unmittelbarkeit
der Antwort noch vorliegt. Keinesfalls kann aber dieser Para
graph für eine Zeitschrift angewendet werden, die vierzehntägig
erscheint, und für einen Fall, wo zwischen dem angeblich ärger
niserregenden Benehmen, das den Anlass zu der Beleidigung ge
geben hat und der Beleidigung selbst, ein Zeitraum von fünf
Wochen liegt und das Erscheinen des beleidigenden Artikels vorher
durch Wochen in fast täglichen Reklamenotizen im Prager Tagblatt angekündigt wurde.
In einem solchen Fall kann sich der Beleidiger wohl nicht damit
ausreden, dass er in einer Erregung gehandelt hat und unmittel
bar auf ein Benehmen des Beleidigten reagiert habe, da er doch
in der Zwischenzeit erheben konnte und musste, ob die von ihm
vorgebrachten beleidigenden Behauptungen der Wahrheit entsprechen.
Das Beispiellose des Falles lässt sich folgendermassen zusammen
fassen. Die von den Angeklagten zitierten Stellen enthalten
offenbar Beleidigungen, für die der Privatkläger unter seinem
vollen Namen jede Gefahr eingegangen ist und die volle Verant-
wortung übernommen hat. Darauf meldet sich ein Anonymus, der
unter dem angemassten parvenuhaften französischen Pseudonym
Lucien Verneau“ die grössten Beleidigungen gegen den Autor
begeht, der ihn selbst mit keiner jener zitierten Schmähungen
getroffen hatte. Er wird sogar beleidigend, weil man ihm seine
Anonymität zum Vorwurf gemacht hat und verteidigt in der unver
frorensten Weise das Recht auf Anonymität, nachdem er dem
Privatkläger einen Vorwurf daraus gemacht hatte, dass er es un
terlasse, der grossen Gefahr entgegenzutreten. Hinter seine
Anonymität hat sich der Erstangeklagte auch dann noch verschanzt,
als gegen ihn gerichtlich vorgegangen werden sollte, und es hat
besondere Mühe gekostet, seinen bürgerlichen Namen und seinen
von einem revolutionären weit entfernten Beruf auszuforschen.
Er, der mit den Phrasen des Kampfmutes vom Privatkläger einen
„ Aufruf um die Welt“ verlangte, eine Gegenüberstellung des
Wortes gegen die Gewalt, hatte nicht einmal den Mut, für
seine Beleidigungen einzustehen, wo er doch gewiss kein Martyrium,
sondern nur eine mehr oder minder grosse Geldstrafe riskiert.
Eine Groteske ist es nun, dass er sich zur Verteidigung des
Rechtes auf Anonymität auf eine Zuschrift des armen TheodorLessing an den Herausgeber des „Aufruf“ beruft, anstatt sie zu
verheimlichen. Man erwartet, dass Lessing dieses Recht vertreten
hat, verblüffenderweise stellt sich aber heraus, dass Lessing
in jener Zuschrift die Schimpflichkeit der Anonymität behandelt,
wobei er offenbar die Artikel des unauffindbaren Lucien Verneau
gemeint hat. Die Verblüffung des Lesers steigert sich nun, wenn
man die Konklusion des Herrn Lucien Verneau vernimmt, Lessing
sei eben leider das Opfer seiner heroischen Auffassung geworden,
indem er durch eine Mörderkugel „an den Folgen seines Irrtums,
dass man mit der Kraft der Wahrheit und mit blossen Händen
der Karabinermündung gegenübertreten könne“, starb. Lessing
hat also keine andere Auffassung vertreten als wie der
Privatkläger und der Angeklagte verteidigt sich gegen diese
moralische Forderung mit dem Argument des Klägers, dass man
mit dem Wort der Gewalt nicht entgegentreten könnte. Ein
ähnlicher Rekord geistiger Verwirrung dürfte im Schrifttum
nicht aufzuweisen sein, und dieser Mann hält sich für berufen,
dem Privatkläger paranoische Züge nachzusagen. Zur Rechen
schaft gezogen, beruft der Angeklagte sich auf eine Erregung,
die sich seiner wegen jener fünfzig von ihm zitierten Angriffe
bemächtigt habe, und hat die Stirne, der Justiz gegenüber nicht
nur so zu tun, als ob sich diese Angriffe auf ihn bezögen,
sondern mit keinem Wort auch nur anzudeuten, dass diese An
griffe ihn gar nicht betreffen, ihn gar nichts angehen, ja
auch nicht im entferntesten mit seiner Person etwas zu tun
haben, die ausdrücklich in einem ganz besonderen Kapitel be
handelt ist, das keine derartigen Angriffe enthält.


Zu ihrer Verteidigung könnten also die Angeklagten
sich lediglich auf die Wahrheit der vorgebrachten Behauptun
gen berufen, was sie aber bisher nicht getan haben. Sollten
die Angeklagten diesen Wahrheitsbeweis nicht antreten, so
wären sie nach Ansicht des Privatklägers ohne weiteres Ver
fahren zu verurteilen, da die Berufung auf den § 9 des zitierten Gesetzes im vorliegenden Fall auch dann nicht ge
geben wäre, wenn sich die vorhergehenden Beleidigungen durch
den Privatkläger gegen die Person des heutigen Erstangeklagten
gerichtet hätten. Wie aber oben ausgeführt wurde, ist dies
keineswegs der Fall, die Angeklagten berufen sich auf Stellen
der Fackel, die sich nicht mit dem Verfasser des beleidigendenArtikels befassen, wogegen er gerade die Stellen, die sich
mit ihm befassen, weil sie offenbar und berechtigterweise
auch von ihm nicht als beleidigend angesehen werden konnten,
geflissentlich verschweigt.


Der Privatkläger beantragt daher, sämtliche weitere
Anträge der Angeklagten abzuweisen, ausser etwaige Wahrheits
beweisanträge, die bisher nicht gestellt worden sind.


Karl Kraus.